Türkei: Dieser Sieger der Stichwahl steht jetzt schon fest

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Der türkische Dauerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat die Wahlen vom vergangenen Sonntag nicht verloren, aber – gemessen an früheren Erfolgen – auch nicht gewonnen. Sein Dauerherausforderer Kemal Kilicdaroglu der seit 13 Jahren die größte Oppositionspartei CHP anführt, hat – gemessen an seinen Umfragewerten – nicht gewonnen, aber auch nicht verloren. Paradoxerweise darf sich als Sieger des ersten Durchgangs der Mann fühlen, der mit 5,2 Prozent abgeschlagen auf dem dritten Platz landete: Sinan Ogan, Politiker der ultranationalistischen Rechten.

Sinan Ogan

Sinan Ogan

Quelle: AFP

Ohne Rücksicht auf etwaige Unregelmäßigkeiten lässt sich festhalten: Die Ultranationalisten sind die Sieger dieser Wahl – gerade, weil sie in allen politischen Blöcken vertreten sind. Da ist die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), deren Chef Devlet Bahceli sich vom erbitterten Gegner Erdogans zu dessen engstem Verbündeten gewandelt hat. Die MHP, mit gut zehn Prozent nun drittstärkste Kraft des Parlaments, fungiert zugleich als verlängerter Arm der alten nationalistischen Kräfte im Staatsapparat, die Erdogan einst im Bündnis mit der Gülen-Organisation bekämpft hatte.

MHP-Chef Devlet Bahceli (l.) mit Präsident Recep Tayyip Erdogan

MHP-Chef Devlet Bahceli (l.) mit Präsident Recep Tayyip Erdogan

Quelle: REUTERS

Aus der MHP hervorgegangen ist auch die „Gute Partei“ von Meral Aksener, neben der CHP die zweitstärkste Kraft des Oppositionsbündnisses, die knapp zehn Prozent erzielte. Außerhalb dieser beiden Blöcke steht die „Partei des Sieges“ von Ümit Özdag – ebenfalls ein einstiger Rivale Bahcelis –, die im vorigen Jahr mit dem Thema Flüchtlinge bis zu zweistellige Umfragewerte erzielte, bei der Parlamentswahl aber deutlich unter der Sieben-Prozent-Hürde blieb.

Doch ihr Präsidentschaftskandidat Ogan, noch ein ehemaliger MHP-Politiker, erzielte doppelt so viele Stimmen und gilt nun als Shootingstar. Zusammen errangen die MHP und ihre Abspaltungen fast ein Viertel aller Stimmen. Hinzu kommen ehemalige MHP-Politiker in beiden großen Parteien: in der CHP etwa Mansur Yavas, Oberbürgermeister der Hauptstadt Ankara, in der AKP allen voran Tugrul Türkes, Sohn des 1997 verstorbenen MHP-Gründers Alparslan Türkes.

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Vor allem aber hat sich Erdogan zwischen der Parlamentswahl vom Juni 2015, als die AKP die absolute Mehrheit verlor, und dem Putschversuch im folgenden Jahr, ideologisch der MHP angenähert. Die Aussöhnung mit den Kurden wurde aufgegeben, ebenso die Reste einer prowestlichen Außenpolitik und der Menschenrechtspolitik der frühen Jahre. Darum ist der Befund, Erdogan habe den Staat islamisiert, nur die halbe Wahrheit.

Die andere lautet: Das Ancien Régime, also der autoritäre, nationalistische Staat, hat sich des politischen Islams bemächtigt. Seither wird die Türkei von einem Amalgam aus Nationalismus und Islamismus beherrscht, mit dem schlechtesten aus beiden Welten. Der Laizismus hingegen, um den sich in die rechte wie linke Opposition gegen Erdogan gesammelt hatte, bildet keine entscheidende Bruchlinie mehr.

Auf radikal-islamistische Kräfte zugegangen

Dabei ist Erdogan auch auf radikal-islamistische Kräfte zugegangen, etwa bei der Umwandlung der Hagia Sophie zur Moschee oder dem Austritt aus der internationalen Istanbul-Konvention zum Schutz von Frauen gegen Gewalt. Diese Allianz zwischen zwei der drei historischen Strömungen der türkischen Rechten – Nationalismus und Islamismus – funktioniert nicht immer reibungslos.

Doch sie verbindet nicht nur ein Pragmatismus der Macht, sondern auch eine ideologische Gemeinsamkeit: eine fast kultische Verehrung des Staates. Auch radikal-islamistischen Kräfte ziehen nun ins Parlament ein – nicht nur auf AKP-Ticket, sondern teils auch als Verbündete der CHP. Das Ergebnis: Ein Parlament, in die extreme Rechte in ihren unterschiedlichen Ausprägungen und Parteizugehörigkeiten so einflussreich sein wird wie nie zuvor.

Die dritte historische Strömung der türkischen Rechten, der Konservatismus, ist zwar in Gestalt zweier AKP-Abspaltungen unter Ex-Wirtschaftsminister Ali Babacan sowie Ex-Ministerpräsident Ahmet Davutoglu auf den Listen der CHP ins Parlament eingezogen, hat dem Oppositionsbündnis aber keinen zählbaren Stimmgewinn gebracht. In der Wählergunst spielen sie keine Rolle.

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Folge wie Ausdruck dieses Rechtstrends ist, dass für einen großen Teil der Wähler offenkundige Probleme – Wirtschaftskrise, Inflation, Korruption, Vetternwirtschaft, Abbau von Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechten, Verstrickungen zwischen Politik und Kriminalität – kaum zählen. Gewählt wird nach Milieu- und Identitätszugehörigkeiten, ergänzt um politische Themen, die sich in einen nationalistischen Diskurs einbetten lassen: Kurden und Flüchtlinge.

Erdogan konzentrierte den Wahlkampf darauf, seinen Herausforderer als Verbündeten der prokurdischen HDP und der militanten PKK darzustellen. Diese innenpolitische Besonderheit dürfte auch der Grund sein, weshalb sich der Rechtstrend in der Türkei im internationalen Vergleich abhebt: In der Türkei rivalisiert die radikale Rechte nicht mit dem politischen Establishment, sondern führt es an.

Kilicdaroglu wiederum hat vorige Woche deutlich gemacht, wie er den Vorsprung auf Erdogan aufholen will – indem er, auch mit Blick auf die Wähler Sinan Ogans, die Stichwahl zu einer Volksabstimmung über Migration umfunktioniert. Vier bis sechs Millionen Flüchtlinge, größtenteils aus Syrien und Afghanistan, leben im Land, Kilicdaroglu spricht sogar von „zehn Millionen unserer Brüder und Schwestern“, die er binnen zwei Jahren abschieben werde. Lange Zeit spielte dieses Thema in der türkischen Politik keine große Rolle. Dies dürfte sich unabhängig vom Ausgang der Stichwahl dauerhaft ändern.

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