Philipp Sands’ Buch „Die letzte Kolonie“

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Die Lektüre des Buchs von Philippe Sands ruft einen Satz des Schweizer Architekturhisto­rikers Siegfried Giedion in Er­innerung: Auch in einem Kaffeelöffel spiegelt sich die Sonne. Bei Sands ist es Chagos, ein Archipel im Indischen Ozean, an dem entlang er die Realpolitik des heutigen Völkerrechts entfaltet. Er erzählt es so spannend, kunstvoll und facettenreich, dass man dieses Buch je­dem empfehlen möchte, der sich für menschliche Schicksale, Weltpolitik und Geschichte interessiert, besonders aber diesen fragilen Zweig des Rechts verstehen möchte. Denn die Bewohner dieses Archipels waren ein Spielball imperialer Macht in den späten Tagen des Kolonialismus, und die britische Krone glaubte damit durchzukommen. Es wäre ihr fast gelungen, wenn es nicht die Sätze und Institutionen des internationalen Rechts gäbe.

In dieser Geschichte gibt es eine Hauptprotagonistin: Liseby Elysé, heute eine alte Dame, wurde 1953, im Sommer der Krönung von Elisabeth II., auf einem kleinen Eiland des Chagos-Archipels geboren. Jahrzehnte später, im September 2018 wird sie den Großen Saal des Friedenspalastes in Den Haag betreten, unbeeindruckt an Marmor und Blattgold vorbeischreiten, und die Richter werden auf Kreolisch vom Unrecht hören, das ihr und anderen Menschen widerfahren ist. Ihre Stimme wird zittern, und am Ende kann sie ihre Tränen nicht zurückhalten, aber sie bringt ihre Geschichte zu Ende, ein kollektives Schicksal verdichtet in 3 Minuten 47 Se­kunden. Allein schon gehört zu werden war ihr eine Genugtuung. Der Weg bis dorthin war weit.

Der Chagos-Archipel liegt mitten im Indischen Ozean, auf halbem Weg zwischen Madagaskar und Sri Lanka. Von den Portugiesen im mittleren sechzehnten Jahrhundert entdeckt, wechselten die kolonialen Hoheitsverhältnisse mehr­mals, zunächst zu den Niederlanden, dann zu Frankreich. 1814 wurde es schließlich infolge der Napoleonischen Kriege an die Engländer abgetreten und war von da ab ein „British Indian Ocean Territory“, zugehörig zu Mauritius. Im Zuge der Dekolonialisierung wäre es demnach eigentlich zusammen mit Mau­ritius 1965 in die Selbständigkeit zu entlassen gewesen. Aber England hatte im Geheimen einen anderen Plan ge­sponnen. Die Amerikaner brauchten im Kalten Krieg dringend eine Militärbasis im Indischen Ozean. Die britische Krone spaltete Chagos vom übrigen Staatsgebiet von Mauritius ab und verpachtete Diego Garcia und andere Inseln dieses Archipels 1966 an die Amerikaner (und bekam im Gegenzug Rabatt auf Polaris-Raketen).

Die Welt des Völkerrechts ist konservativ und vorsichtig

Aber das war nicht alles. Die Briten deportierten ab 1967 tatsächlich sämt­liche Bewohnerinnen und Bewohner, darunter auch Liseby Elysé, in Nacht- und Nebel-Aktionen aus ihrer Heimat. Der Weltöffentlichkeit und den UN wurde eine Lüge aufgetischt: es gäbe „keine dauerhaften Bewohner“, deswegen sei die Abtrennung von Mauritius legal, nie­mand in seinen Menschenrechten verletzt, das Völkerrecht gewahrt. In­tern sprach man von „Tarzans oder Freitagen, deren Herkunft zweifelhaft ist“. Jede Zeile dieser Erzählung ist be­drückend, spiegelt in Mikrogeschichten die Realität von Kolonialherrschaft und führt Sands dazu, im deutschen Unter­titel seines Buches von „Verbrechen ge­gen die Menschlichkeit“ zu sprechen. Dieser Tatbestand wurde aufgrund der NS-Unrechtserfahrungen in den Nürnberger Prozessen ins Völkerrecht ein­geführt, 2002 in der Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshofes im Einzelnen definiert und bezeichnet ein Bündel schwerster Delikte. Deportation – die Zwangsvertreibung von Zivilisten – gehörte immer dazu.



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