Der Westen gratuliert Erdogan und vergisst die Freiheit

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Beginnen wir mit einer kurzen Zusammenfassung der Wahlen, die im Mai in der Türkei stattfanden. Präsident Erdogan gelang es, zwei Punkte über die 50 Prozent zu kommen, sodass er das Land fünf weitere Jahre regieren kann. Zweifellos sind Erdogan und seine An­hänger darüber sehr glücklich. In der Op­position herrscht schwere Enttäuschung. Die Wählerschaft der Opposition, immerhin die Hälfte des Landes, ist verzweifelt, das oppositionelle Bündnis bereits zerbrochen. In seinem Streben nach absoluter Beherrschung sämtlicher Politik- und Lebensbereiche ist diese La­ge der Opposition für Erdogan ein un­vermutetes Geschenk. Er setzt die ersten Schritte in diese Richtung.

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Etwas, das Erdogan besonders gut kann, ist „takiye“. In der islamischen Terminologie bedeutet der Begriff: Wenn Leben oder Eigentum in Gefahr ist, darf der eigene Glaube verheimlicht und das Gegenteil gesagt werden. Erdogan nutzt takiye zum Machterhalt. Zu diesem Zweck sandte er in seiner Siegesrede nach der Wahl positive Botschaften aus. Als wäre nicht er es gewesen, der die Opposition jahrelang be­zichtigt hatte, gemeinsame Sache mit Terroristen zu machen, erklärte er vom Balkon seines Palastes aus: „Es ist an der Zeit, die Konflikte beiseitezulegen und sich um die nationalen Ziele herum zu vereinen. Das Türkei-Jahrhundert bauen wir ge­meinsam auf.“

Bülent Mumay


Bülent Mumay
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Bild: privat


Wenn Sie jetzt fragen: „Er hat gerade die Wahlen gewonnen, ist auf dem Gipfel seiner Macht. Warum muss er jetzt den guten Mann spielen?“, kennen Sie Erdogan offenbar nicht. Lassen Sie es mich erklären. In neun Monaten finden Kommunalwahlen statt. Außerdem kann Erdogan laut geltender Verfassung nicht noch einmal gewählt werden. Um seine Macht absolut zu machen, muss er den Kreisen gegenüber, die er verärgert hat, takiye üben: den Wählern, den Märkten, dem Westen.

Fangen wir bei den Kommunalwahlen an. Die größte Niederlage seiner politischen Geschichte erlitt Erdogan 2019. Er verlor die Me­tropolen Istanbul und Ankara, die er 25 Jahre lang kontrolliert hatte, an die größte Oppositionspartei. Insbesondere der Verlust Istanbuls hinderte ihn daran, weiter auf den Kommunalhaushalt der Stadt zuzugreifen, aus dem auch die Stiftungen seiner Kinder finanziert wurden. Seit 2019 kann Erdogan seinen Getreuen keine Ressourcen mehr aus dem Stadtsäckel zuschanzen, also will er Istanbul um jeden Preis zurückerobern. Das kann ihm nur gelingen, wenn er nett zu den Wählern in Istanbul ist, denn dort kam er bei den jüngsten Wahlen nicht über 50 Prozent. Kann er seinen Stimmenanteil in den Großstädten er­höhen, in denen die Opposition stärker ist, wird er leichter durch das Verfassungsreferendum kommen, das ihm er­möglichen soll, 2028 noch einmal ge­wählt zu werden. Vorbereitungen da­für hat er bereits angekündigt.

Rückkehr zur Orthodoxie

Es gibt noch zwei weitere Kreise, denen gegenüber Erdogan takiye üben muss: die Märkte und der Westen. Der einzige Weg aus der von ihm verursachten Wirtschaftskrise ist, zur orthodoxen Wirtschaftspolitik zurückzukehren und sich er­neut die Unterstützung des Westens, den er mit seiner aggressiven Außenpolitik verstimmt hat, zu sichern.

Aus diesen Gründen stellte Erdogan ein vor allem mit Technokraten besetztes Kabinett vor. Er wählte Personen, die gewährleisten, dass er die Rolle des mo­derat Gewordenen spielen kann, um sein Regime aufrechtzuerhalten. Als In­nenminister setzte er einen Beamten oh­ne größeres politisches Engagement ein. Die Wirtschaft legte er erneut in die Hände des Ex-Ministers Mehmet Simsek, den er einst selbst entlassen und gar beschuldigt hatte, nicht ehrlich zu sein. Kaum im Amt, versprach Simsek, die Wirtschaft, die nicht auf einem „transparenten, harmonischen, vorhersehbaren und rationalen Fundament“ stehe, in Ordnung zu bringen. Die Er­nennung von Geheimdienstchef Hakan Fidan zum Außenminister trägt zu dem Image bei, die Beziehungen zum Westen ins Reine bringen zu wollen.



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