Karin Henkel adaptiert Michael Hanekes Film-Etüde „Amour“

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Ein Mann pflegt seine kranke Frau. Der Pflegedienst kommt dreimal pro Woche. Er hat ihr versprochen, dass sie in kein Heim kommt. Aber nun zieht sich ihr Sterben hin. Es wird schlechter von Tag zu Tag, aber sie hört einfach nicht auf zu atmen. Weigert sich zu trinken und zu sprechen, aber atmet eben noch. Ein Schlag­anfall hat sie zum hilflosen Kleinkind zurückgestuft. Er, der Mann, muss alles tun, was sie nicht mehr kann – sie waschen, betten, umlagern, füttern. Die Scham vor dem Verfall des eigenen Körpers führt dazu, dass nicht einmal mehr die eigene Tochter sie sehen darf. Die Frau, der Mann – sie bilden eine verschworene Einheit, eine Zelle, so wie es ganz am Anfang einmal war: „Und sie werden sein ein Fleisch.“ Aber irgendwann geht es nicht mehr. Wendet die Frau ihren lebensmüden Blick hilfesuchend zum Mann, und eine Taube fliegt durchs Fenster, die seiner Sterbehilfe den Segen gibt.

Als Michael Hanekes Film „Amour“ 2012 mit Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva in den beiden Hauptrollen herauskam, wurde er als sinnstarkes ­Do­kument einer oft verschwiegenen, und doch flächendeckend erlebten Wirklichkeit gefeiert. Die Tragödie des Alterns, kühl gefasst als Zeichen einer Zeit, die versucht, alle Krankheit zu funktionalisieren und den Tod aus dem Alltag zu exkludieren. Die Stärke von Hanekes Film lag in seiner genauen, den Details des Dahin­siechens zugewandten Erzählweise. Es gibt für die beiden Alten im Grunde kein außen mehr, alles spielt sich nur noch in der Wohnung, in den wenigen gewechselten Worten, den letzten schwachen Gesten ab. Ein bewegendes Kunstwerk zärtlich zerstörerischer Innerlichkeit.

Dringende Nähe

Warum den Versuch unternehmen, eine so intime Bild-Etüde auf die zugige Theaterbühne zu übertragen? Das dramatisch nachzuspielen, was nur im Schutz der Kameraeinstellung und des Szenenschnitts solch dringende Nähe entwickeln konnte? Die Regisseurin Karin Henkel und ihr Dramaturg Tobias Schuster haben das Wagnis unternommen, aus dem Drehbuch eine Theaterfassung zu machen, die an manchen Stellen deutlich vom Original abweicht. Um das kenntlich zu machen, wird stets ein kleines rotes Fähnchen gehoben – dieses etwas alberne Verfahren wurde ihnen offenbar von den Rechte­inhabern so vorgeschrieben.

Die ehrgeizige Tochter (Katharina Bach) und ihr aufopferungsvoller Vater (André Jung)


Die ehrgeizige Tochter (Katharina Bach) und ihr aufopferungsvoller Vater (André Jung)
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Bild: Matthias Horn


André Jung spielt den pflegenden, sich für seine Frau trotzig aufopfernden Mann. Im verschwitzten T-Shirt eilt er von einer Notwendigkeit zur nächsten und kommt doch nicht hinterher. Um die vielfältigen Anforderungen der Kranken zu unterstreichen, ist die Rolle der Frau hier auf mehrere verteilt. Immer ruft von irgendwoher eine von ihnen um Hilfe, fällt aus dem Rollstuhl, verschüttet ihren Tee. Katharina Bach im schön geschnittenen dunklen Kleid (Kostüme: Teresa Vergho) ist manchmal kranke Frau, aber vor allem auch viel beschäftigte Tochter, die immer wieder kurz hereinschneit und Verbesserungsvorschläge macht, ohne zu bemerken, dass längst keine Besserung mehr in Sicht ist. Ihre fordernde Art spiegelt das Bewusstsein einer Generation, die ihre Au­gen vorm existenziellen Schattenwurf des menschlichen Daseins verschließt.

Auch eine soziale Frage

Christian Köber und Joyce Sanhá spielen auf naturalistisch bedrückende Weise das unterbezahlte, wenig liebevolle Pflegepersonal. Teilnahmslos stellen sie die verschiedenen Elemente und Zusatzfunktionen eines Pflegebetts vor – mit wasser­dichter atmungsaktiver Matratze und „Schnappern“, mit denen man die Stell- und Liegeposition verändern kann. Sie repräsentieren auch den kalten Hauch des Geldes, der eine schwere Erkrankung nicht zuletzt zur sozialen Frage macht, im Sinne: Wer kann sich im Alter welche Form der Pflege leisten?

Mühsal der Pflege: Szene aus „Amour“


Mühsal der Pflege: Szene aus „Amour“
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Bild: Matthias Horn


So beherzt das Ensemble spielt, so einfühlsam es darstellt, wie das Abstreifen eines Hemdes oder das Öffnen eines Brillenetuis zur immensen Kraftanstrengung wird – all das bereitet nur den Boden für den emotionalen Höhepunkt dieses erstaunlich eigenständigen und dramaturgisch geglückten Abends: Denn neben den Darstellerinnen und Darstellern befinden sich – immerhin ist die Inszenierung eine Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen – auch Experten des Alltags auf der Bühne. Ein Chor von Betroffenen, die schwere Krankheit über- oder bei einem geliebten Nächsten miterlebt haben. Was man aus guten Gründen mit Skepsis erwartet, das menschelnde Vorzeigen von „echten Geschichten“, bleibt aus. Stattdessen inszeniert Henkel deren Auftritt sehr bedacht als kurzes, einschneidendes Intermezzo direkt vor der Pause. Jede und jeder kommt kurz zu Wort und beginnt, eine Erfahrung mit Krankheit oder Tod zu schildern. Meist sind es nur ein paar Sätze, dann übernimmt einer der Darsteller und liest einen Text über die von ihnen erfahrenen Schicksalsschläge vor, während im Hintergrund auf einer Leinwand Fotografien eingeblendet werden, die sie in ihrem früheren Leben zeigen. Da ist eine Architektin wenige Tage vor ihrem ersten Schlaganfall, da sitzt eine Mutter auf der Bühne und berichtet mit zu Tränen rührender Gefasstheit vom Tod ihres Sohnes an einer unheilbaren Nervenkrankheit. Es gelingt ein seltenes Kunststück: Betroffene sprechen, ohne Betroffenheit auszulösen. Das Publikum geht mit ernster Traurigkeit in die Pause.

Zu diesem Gefühlswert kehrt der Abend danach nicht mehr zurück. Er beschränkt sich darauf, die Wände und Decken des sich verjüngenden Guckkastens (Bühne: Muriel Gerstner) einzureißen und Erdhaufen auf dem Boden zu verteilen. Die Taube kehrt als ausgestopftes Artefakt zurück, ein junger Mann setzt sich ans Klavier, und irgendwann hält André Jung ein weißes Kopfkissen in den Händen. „Es ging ganz leicht“, sagt er und tritt ans Bett zu seiner röchelnden Frau. Um sie zu er­lösen? Oder sich selbst?



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