Ronya Othmann fordert schnellen Wiederaufbau für die Jesiden

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Schon 2018, als ich das erste Mal jesidische Flüchtlingscamps in der Autonomen Region Kurdistan besuchte, sagten die Menschen dort, ständig kämen Journalisten, aber dann passiere doch nichts. Natürlich wollten sie gehört werden. Aber sie seien es leid, ihre grauenvollen Geschichten zu erzählen, und kaum dass die Kameraleute, Fotografen und Reporter abgereist seien, gehe alles weiter wie bisher. Sie wollten, dass nach ihren vermissten Angehörigen gesucht werde. Dass die IS-Täter vor Gericht gebracht und ihre Toten würdig bestattet werden. Sie wollten das Leben in den Flüchtlingszelten hinter sich lassen und ins sichere Europa gehen, weil ein Weiterleben in Nachbarschaft zu den Tätern nicht möglich schien. Oder zurück in ihre Dörfer und Städte im Shingal. Dafür aber müssten dort die Sprengfallen des IS beseitigt und die zerstörten Häuser, Straßen, Strommasten, Schulen wiederaufgebaut werden. Aber der ganze Wiederaufbau, auch das haben die Menschen damals sehr deutlich artikuliert, ist nichts wert, wenn es dort nicht sicher ist.

Das neue Zuhause könnte wieder zerstört werden

Sie haben das seitdem Hunderte, Tausende Male wiederholt, Journalisten schrieben es auf, Menschenrechtsaktivisten setzten drei Ausrufezeichen dahinter. Und jetzt haben wir das Jahr 2023, und der Genozid jährt sich in diesem August zum neunten Mal. Die Forderungen sind dieselben geblieben. Nur Journalisten verirren sich seltener in die Camps in der Autonomen Region Kurdistan oder in den Shingal. Berichtet wird vor allem zu besonderen Anlässen, wie etwa im Januar, als der Bundestag den Völkermord als solchen anerkannte, oder im März, als Annalena Baerbock Kurdistan, den Irak und als erste Außenministerin überhaupt den Shingal besuchte. Traurigerweise schien sie dabei mehr Interesse für die immer noch an den Folgen des Genozids leidende Bevölkerung aufzubringen als viele der Politiker vor Ort. Sie hat Unterstützung für die Beseitigung von Sprengfallen und den Wiederaufbau versprochen. Versprechen reichen aber nicht, wenn den Worten nicht auch Taten folgen. Das Grundlegendste ist noch nicht einmal in Angriff genommen. Um es mit den Worten eines Jesiden aus dem Shingal zu sagen: „Was bringt es, wenn ich heute mein Haus aufbaue, und morgen kommt wieder jemand und bombt es in Grund und Boden?“

Ronya Othmann


Ronya Othmann
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Bild: Kat Menschik


Auch wenn Jesiden in die Region Shingal zurückgekehrt sind (etwa weil sie sich den Schlepper nach Europa nicht leisten können und das Leben in den Zelten menschenunwürdig ist) – unsicher ist es dort allemal. Die Türkei bombardiert seit Jahren aus der Luft. Dabei sterben immer auch Zivilisten. Und den Boden kontrollieren neben der irakischen Armee auch Milizen, etwa die YBŞ, die von der PKK und der syrisch-kurdischen YPG/YPJ unterstützt wird und auch den „Volksmobilisierungseinheiten“ beigetreten ist. Die „Volksmobilisierungseinheiten“ oder „Hashd as-Shaabi“ sind ein Bündnis verschiedener, vor allem schiitscher Milizen, die sich 2014 im Kampf gegen den IS zusammengeschlossen haben. Sie werden von Bagdad bezahlt, doch auch von Iran mit Waffen beliefert und von den Revolutionsgarden ausgebildet. Teile der Hashd stehen also nicht unter irakischem, sondern unter iranischem Kommando. Ein kleiner Teil des Shingal, nämlich der Ort Sherfedin, wird außerdem von der HPÊ kontrolliert, der von Heydar Şeşo gegründeten jesidischen Bürgerwehr.

Die Dörfer der Mörder in Sichtweite

Für alle, denen jetzt schon der Kopf schwirrt: Die Situation im Shingal ist also ziemlich vertrackt. Immer wieder gibt es militärische Auseinandersetzungen, wie etwa im Mai 2022 zwischen dem irakischen Militär und der YBŞ. Hinzu kommt, dass die Region Shingal zu den sogenannten umstrittenen Gebieten gehört, auf die sowohl die Autonome Region Kurdistan als auch der Irak Anspruch erheben und deren Zugehörigkeit gemäß Artikel 140 der irakischen Verfassung in einem Referendum geklärt werden müsste. Zwar haben Bagdad und Erbil 2020 das Sinjar-Abkommen unterzeichnet, das neue Verwaltungs- und Sicherheitsstrukturen, Wiederaufbau und den Abzug aller Milizen aus dem Shingal vorsieht, doch es wurde nicht umgesetzt.

Als ich im Oktober 2022 den Shingal besuchte, passierte ich so viele Checkpoints, dass ich aufhörte zu zählen. Ich fuhr durch Dörfer und Städte, die immer noch zu großen Teilen zerstört sind. Ortschaften, die nur noch Ruinen sind, und in Sichtweite: die Dörfer der IS-Mörder. Viele leben dort noch immer unbehelligt, berichten Jesiden. Sie hätten sich nur die Bärte abgeschnitten.

Der Shingal war bis vor dem Genozid Heimat von etwa 400.000 Jesiden. Nach Jahrhunderten der Verfolgung war es das letzte verbliebene Siedlungsgebiet, in dem sie die Mehrheit stellten. Ob die Jesiden eine Zukunft haben, hängt auch davon ab, ob sie in ihre Dörfer und Städte zurückkehren können. Und ob man ihnen nicht mehr wie Bittstellern gegenübertritt, für die man nur Almosen übrig hat und Mitleid, sondern wie Menschen, denen großes Unrecht widerfahren ist und denen man zugesteht, über ihr Leben bestimmen zu dürfen.



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