Arbeitsmarkt: „Generationen-Bashing nach dem Motto, die wollen einfach nicht arbeiten, hilft nicht“ | EUROtoday

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Der Mangel an Nachwuchs und an Fachkräften in quick allen Branchen und öffentlichen Institutionen gefährdet die Marktwirtschaft in Deutschland, die seit Jahrzehnten eine der erfolgreichsten der Welt ist – vor allem auch wegen ihres worldwide hoch geschätzten Systems der dualen Berufsausbildung. Doch auch das funktioniert nur mit einer ausreichenden Zahl von Absolventen. Die Handelskammer Hamburg mit ihren rund 180.000 Mitgliedsunternehmen will den bedrohlich zunehmenden Mangel an Arbeitskräften stoppen. Sascha Schneider, Geschäftsführer des Hamburger Luxusgüterherstellers Montblanc, und Olaf Oesterhelweg, stellvertretender Vorstandssprecher der Hamburger Sparkasse (Haspa), sagen, mit welchen Mitteln der Arbeitsmarkt gestärkt werden kann.

WELT AM SONNTAG: Herr Oesterhelweg, Herr Schneider, die Handelskammer Hamburg rechnet damit, dass bis zum Jahr 2035 etwa 133.000 Fachkräfte am Hamburger Arbeitsmarkt fehlen, wenn Wirtschaft und Politik nicht entschieden gegensteuern. Ist dieser Trend noch zu drehen?

Sascha Schneider: Wir werden es mit einem ,Weiter so‘ jedenfalls nicht schaffen. Die Handelskammer ,Fachkräfte-Strategie 2040‘ gegen den Fachkräftemangel fußt auf vier Säulen: die Qualifizierung von Fachkräften, eine höhere Erwerbsbeteiligung – vor allem auch von Frauen –, die Zuwanderung von Arbeitskräften aus anderen Ländern und die Schaffung attraktiverer Arbeits- und Lebensbedingungen. Auf all diesen vier Gebieten werden wir, die Handelskammer und jedes einzelne Unternehmen, konzentriert arbeiten müssen, um den Fachkräftemangel einzudämmen.

Olaf Oesterhelweg: Allein bei einer höheren Erwerbsbeteiligung geht es schon um vielfältige Ansätze, von flexibleren Arbeitszeiten bis hin zu einem freiwilligen, späteren Renteneintritt. Wir beide stehen stellvertretend für große Hamburger Unternehmen, die gemeinsam und branchenübergreifend Strukturen für den Abbau des Fachkräftemangels schaffen wollen, von denen dann auch kleinere Unternehmen profitieren. Zur Integration zugewanderter Fachkräfte etwa lässt sich eine Infrastruktur schaffen, die letztlich allen hilft.

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WELT AM SONNTAG: Ist Hamburgs Arbeitsmarkt denn nicht attraktiv genug?

Schneider: Wir haben Hausaufgaben zu machen. Hamburg ist heutzutage nicht Deutschlands attraktivste Wirtschaftsregion. München und auch Berlin sind da weiter. Wir leben noch immer in einer Komfortzone nach dem Motto ,Hamburg ist die schönste Stadt der Welt‘. Darauf können wir uns aber nicht ausruhen. Im Ausland ist Hamburg – Deutschlands zweitgrößte Stadt – nicht wirklich bekannt. Wenn wir bei Montblanc Fachkräfte nach Hamburg holen wollen, fragen uns schon in Europa viele der Menschen, die wir darauf ansprechen, wo Hamburg liegt. Hamburgs internationale Bekanntheit ist zu gering. Wir müssen das reale Bild von Hamburg als lebenswerte Metropole worldwide stärker publik machen.

WELT AM SONNTAG: Leiden Ihre beiden Unternehmen unter Fachkräftemangel?

Schneider: Wir können unseren Bedarf an neuen Mitarbeitern bei Montblanc noch intestine decken, die Besetzungszeiten bei Stellenausschreibungen sind aber in den vergangenen Jahren um etwa zwei Monate im Schnitt länger geworden. Wir haben eine starke und bekannte Marke und sind worldwide präsent. Große Probleme haben wir aber bei der Ausbildung und dabei, genügend Schülerinnen und Schülern zu finden, die gewillt und in der Lage sind, eine Ausbildung bei uns zu beginnen. Viele junge Menschen erfüllen heutzutage nicht die nötigen Voraussetzungen, wenn sie von der Schule kommen, etwa beim Rechnen und Schreiben.

Oesterhelweg: Auch bei uns steigt der Zeitbedarf, um Stellen neu zu besetzen. Die gewünschte Zahl an Auszubildenden bekommen wir nach wie vor, aber vor allem auch deshalb, weil wir uns sehr intensiv darum kümmern. Wir haben sogar die Zahl der Auszubildenden in einem Jahrgang zuletzt von 90 auf 150 erhöht und werden sie noch weiter aufstocken. Auch deshalb haben wir unser Recruiting deutlich professionalisiert und ausgeweitet. Es gibt zum Beispiel Prämien für die Anwerbung neuer Azubis, und wir machen unsere Ausbildung deutlich attraktiver, etwa bei den dualen Studiengängen oder mit dem neuen digitalen Bankkaufmann. Und am 16. Februar haben wir das Richtfest für unsere Azubi-Apartments – das ist ein echtes Leuchtturmprojekt vor allem auch für Menschen, die nicht aus Hamburg kommen und eine Ausbildung bei uns machen wollen. Wir reden nicht nur über Wohnungsnot, wir tun etwas dagegen. Und wir möchten auch andere Unternehmen dazu animieren.

Schneider: Das Azubi-Wohnheim der Haspa ist in der Tat ein Leuchtturmprojekt und sehr vorbildlich, so etwas könnte die Wirtschaft auch auf überbetrieblicher Ebene organisieren. Zum Beispiel auch für Fachkräfte, die aus dem Ausland zu uns nach Hamburg kommen.

WELT AM SONNTAG: Rechtsradikale, fremdenfeindliche Tendenzen wühlen Deutschland auf. Wie groß ist mittlerweile schon der Schaden – gewissermaßen der ,AfD-Malus‘ – für die Wirtschaft?

Oesterhelweg: Die Hamburger Wirtschaft nimmt dieses Thema sehr ernst. Sie steht gemeinsam mit den Hamburgerinnen und Hamburgern auf und sagt, so geht es nicht weiter. Unternehmen haben eine klare Wertefunktion. Die Hamburger Sparkasse als regional verwurzeltes Unternehmen steht aus Überzeugung für Gemeinwesen, Respekt, Vielfalt und Toleranz. Wir setzen uns mit der Stadtgesellschaft dafür ein, dass in Hamburg und Deutschland sichere Lebensbedingungen für alle Menschen herrschen und dass politische Entwicklungen nicht in eine völlig falsche Richtung laufen.

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WELT AM SONNTAG: Die Zuwanderung nach Deutschland hat den Arbeitsmarkt in jüngerer Zeit nicht sehr entlastet. Hoffnungen auf den Facharbeiter aus der Subsahara-Region oder die Facharbeiterin aus Syrien waren vielleicht überzogen.

Schneider: Die Politik und die Wirtschaft haben seit der Migrationsbewegung zwischen 2015 und 2017 viel gelernt. Die Beherrschung der deutschen Sprache, aber auch die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse waren und sind eine Herausforderung. Die Politik hat aber die Anerkennung von Berufsabschlüssen erleichtert, und sie hat die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, Menschen, die zu uns kommen, einfacher in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Wichtig ist es obendrein natürlich auch, die ,gezielte Zuwanderung‘ durch Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland schon in den Heimatländern zu stärken, aus denen die Menschen zu uns kommen wollen. Die Handelskammer Hamburg testet zum Beispiel gerade eine Fachkräftepartnerschaft mit Usbekistan, die wir im vergangenen Jahr aufgebaut haben.

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WELT AM SONNTAG: Wo können Politik und Wirtschaft noch ansetzen, um mehr Menschen an den Arbeitsmarkt zu bringen?

Oesterhelweg: In Deutschland haben wir ein sehr großes Potenzial an Fachkräften, das wir einfach nicht heben. Wir haben zum Beispiel sehr hohe Teilzeitquoten, wodurch intestine ausgebildete Fachkräfte dem Arbeitsmarkt nicht vollständig zur Verfügung stehen. Wenn es uns etwa gelingt, junge Elternpaare beidseitig in Arbeit zu halten, ohne dass sie sich Sorgen um die Betreuung der Kinder machen müssen, kommen wir schon einen großen Schritt voran.

WELT AM SONNTAG: Wo ist der Fachkräftemangel in Hamburg mittlerweile besonders groß?

Schneider: Der Fachkräftemangel bei den Pflegeberufen ist eklatant, nicht nur in Hamburg, sondern in ganz Deutschland. Die durchschnittliche Zeit, die eine Pflegekraft heutzutage noch mit einem alten Menschen verbringen kann, ist sicherlich nicht das, was wir uns unter einem menschenwürdigen Leben vorstellen. Das betrifft direkt und indirekt die gesamte Gesellschaft, denn in einer alternden Gesellschaft haben immer mehr Menschen pflegebedürftige Angehörige. Deutliche Rückgänge bei der Geschäftstätigkeit etwa erleben wir wiederum heute schon in der Gastronomie – weil zu wenig Personal zur Verfügung steht.

Oesterhelweg: Hinzu kommt noch: Der Fachkräftemangel gewinnt durch die demografische Entwicklung eine besondere Dynamik. Wir haben bei der Hamburger Sparkasse derzeit insgesamt rund 4400 Mitarbeiter, in den kommenden zehn Jahren müssen wir aber etwa 2000 bis 2500 Stellen neu besetzen, weil die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen. Insofern ist es für uns jetzt umso wichtiger, als Arbeitgeber noch attraktiver zu werden.

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WELT AM SONNTAG: Vermutlich rund 630.000 Menschen zwischen 15 und 24 Jahren in Deutschland gehen weder einer Ausbildung noch einer Berufstätigkeit nach, schätzen Arbeitsmarktforscher. Wie kommt die Wirtschaft an sie heran?

Oesterhelweg: Dahinter steht die große Frage, welchen gesellschaftlichen Stellenwert Erwerbsarbeit und durch Ausbildung erworbene Kenntnisse heute und künftig überhaupt noch haben. Wir bieten bei der Haspa zum Beispiel verstärkt Schülerpraktika an, um jungen Menschen zu erklären, dass wir nicht mehr die klassische Bank von vor 20 Jahren sind, sondern dass man heutzutage hier ganz anders arbeiten kann. Etwa 300 Schülerpraktika sind es jährlich, die dann auch dazu führen, dass sich junge Talente für uns begeistern. Die Noten sind dabei ein Faktor, wir schauen aber viel stärker als früher auf ihr Persönlichkeitsprofil.

Schneider: Bei unseren Bewerbern – besonders bei jüngeren Menschen – sind die Vorstellungen von Arbeitsalltag und Arbeitsleben deutlich andere als früher. Ausbildung und duale Ausbildung werden heutzutage nicht mehr unbedingt als ,attractive‘ empfunden. Einen Beruf solide zu erlernen und dann darauf aufzubauen, das wird heute nicht mehr von allen als attraktiv angesehen. Wir müssen als Unternehmen sehr viele Angebote machen, von Bildungs- und Ausbildungsaspekten über versatile Arbeitszeiten bis hin zu Perspektiven für künftige Mitarbeiter, auch im Ausland arbeiten zu können.

Oesterhelweg: Das Thema kann nicht eine Seite der Wirtschaft allein lösen. Unternehmen, Politik, Verbände und Handelskammern müssen gemeinsam neue Wege finden und um die jüngere Generation werben. Generationen-Bashing nach dem Motto, die wollen einfach nicht arbeiten, hilft da nicht.

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WELT AM SONNTAG: Schätzungsweise 2,5 Millionen Menschen in Deutschland zwischen 20 und 34 Jahren haben keine Ausbildung oder streben keine an. Wie wird Ausbildung wieder attraktiver?

Schneider: Viele junge Menschen glauben, dass sie auch ohne eine Ausbildung ihr Leben verwirklichen und intestine bezahlte Jobs bekommen werden. Programmierer zum Beispiel, die während ihrer Schulzeit bereits begeistert damit begonnen haben, Computer zu programmieren, finden heutzutage sehr viele attraktive Arbeitsplatzangebote und können gutes Geld verdienen. Wenn dann jemand langfristig Programmierer bleiben will, fragt er oder sie sich, wozu brauche ich eine Ausbildung? Wir müssen uns deshalb fragen: Braucht es die vielen formalen Kriterien von Ausbildung heutzutage noch – muss das, was wir heute Ausbildung nennen, in zehn Jahren immer noch Ausbildung sein? Wie kann man Berufseinsteigern die Grundlagen vermitteln, damit sie in den Arbeitsmarkt intestine hineinkommen? Arbeitsleben bedeutet ja heutzutage ohnehin permanentes Lernen.

Oesterhelweg: Dabei kann jedes Unternehmen durchaus auch seinen eigenen Weg gehen. Wir stellen verstärkt Quer- und Seiteneinsteiger für unsere Servicefunktionen ein und sprechen auch Menschen an, die vielleicht gar kein besonderes Karriereinteresse haben.

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WELT AM SONNTAG: Gewerkschaften wie die IG Metall fordern kürzere Arbeitszeiten bei vollem Lohnausgleich – so schrumpft das Arbeitskräftepotenzial doch weiter.

Schneider: Montblanc ist als Unternehmen der Metall- und Elektroindustrie von dieser Diskussion selbst betroffen. Wir haben die 35-Stunden-Woche seit vielen Jahren, und sie hat uns nicht geschadet. Wir erleben in jüngerer Zeit verstärkt die Diskussion um die Einführung der Viertage-Woche. Ich struggle da zunächst auch skeptisch. Unter Umständen machen wir Arbeit damit aber attraktiver und bringen auch Menschen wieder in Arbeit, die dem Arbeitsmarkt heutzutage nicht zur Verfügung stehen. Bei mir bleibt aber bei diesem Thema auch Skepsis, ob uns diese Diskussion insgesamt volkswirtschaftlich weiterführt.

Der gebürtige Berliner Sascha Schneider (50) ist seit 2009 Geschäftsführer des Hamburger Luxusgüter-Herstellers Montblanc. Das Unternehmen fertigt Schreibgeräte, aber auch Taschen, Uhren und Accessoires wie Sonnenbrillen. Zuvor arbeitete er unter anderem für Tchibo und die Hamburgische Landesbank. Seit 2019 ist der Jurist ehrenamtlich im Plenum der Handelskammer Hamburg tätig und Vorsitzender des Ausschusses für Bildung und Fachkräfte. Schneider, begeisterter Läufer und Schwimmer, verheiratet und Vater von vier Kindern, ist Mitglied des Fußball-Zweitligisten Hertha BSC.

Seit 1998 arbeitet der promovierte Diplom-Kaufmann Olaf Oesterhelweg (55) für die Hamburger Sparkasse (Haspa), Deutschlands größte Sparkasse. Seit Oktober 2023 ist er stellvertretender Vorstandssprecher der Haspa und der Muttergesellschaft Haspa Finanzholding, zuständig unter anderem für das Personal. Oesterhelweg kandidiert bei den bis zum 19. Februar laufenden Wahlen zum Plenum der Handelskammer Hamburg. Er will sich unter anderem bei der Arbeit gegen den Fachkräftemangel engagieren. Der gebürtige Gütersloher ist verheiratet und hat zwei Kinder.

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