Ann Marks' guide “The Life of Vivian Maier” | EUROtoday

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Vor zehn Jahren lief in den Kinos ein fesselnder Dokumentarfilm. Er erzählte die unglaubliche Geschichte, wie ein Mann aus Chicago Ende der 2000er Jahre durch Zufall das Werk einer unbekannten Künstlerin entdeckte. John Maloof hatte bei einer Zwangsversteigerung Boxen voller Negative gekauft, die Szenen aus den Straßen Chicagos zeigten und die er für ein Geschichtsbuch verwenden wollte, an dem er schrieb. Zwar erwiesen sich die Aufnahmen bei genauer Durchsicht als ungeeignet für seine Arbeit, aber sie gefielen dem jungen Amateurhistoriker. Und zwar so sehr, dass er weitere Kisten desselben Konvoluts erwarb und einige der Bilder ins Netz stellte – die Resonanz war gewaltig.

Die Öffentlichkeit begeisterte sich sofort für die unsentimentale, ausdrucksstarke Straßenfotografie, die Maloof entdeckt hatte. Wie sich herausstellte, stammten die Bilder von einer 1926 in New York geborenen und 2009 in Chicago gestorbenen Frau, die als Kindermädchen bei reichen Familien gelebt hatte und nie als Künstlerin in Erscheinung getreten battle: Vivian Maier. Es wurden Ausstellungen organisiert und Bildbände gedruckt, die „Nanny mit der Kamera“ entwickelte sich zur weltweiten medialen Sensation.

Maloofs Film, der auch Interviews mit ehemaligen Arbeitgebern von Maier zeigt, ließ die Zuschauer trotz seines Bemühens um Aufklärung mit einigen Fragen zurück: Wie war die Frau aufgewachsen, die sich über ihre Vergangenheit in Schweigen hüllte? Wieso hatte sie nur einen winzigen Teil ihrer Negative entwickelt? Und warum hat sie ihr großartiges Werk der Welt nie gezeigt, ja es regelrecht vor ihr versteckt?

Intelligent und meinungsstark

Um Antworten zu finden, machte sich die Hobbygenealogin Ann Marks an die Arbeit und brachte 2021 in den USA eine Biographie heraus, die nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Das Buch beruht auf jahrelanger Detektivarbeit, auf der Sichtung von 140.000 Aufnahmen und Tausenden Dokumenten sowie Gesprächen mit Experten. Intensiv auseinandergesetzt hat die Autorin sich mit Maiers zerrütteter Familie und ihrer Kindheit. Die egozentrische Mutter war psychisch labil und ließ ihre beiden Kinder Vivian und Karl immer wieder im Stich. Der verantwortungslose, alkoholkranke Vater war früh aus ihrem Leben verschwunden. Karl geriet auf die schiefe Bahn, nahm Drogen und litt wohl an Schizophrenie, Vivian wurde, dafür spricht einiges, in ihrer Jugend Opfer von Gewalt.

Ann Marks: „Das Leben der Vivian Maier“. Die Nanny mit der Kamera.
Ann Marks: “The life of Vivian Maier”. The nanny with the digital camera.Steidl Publishing

Doch allen Hindernissen zum Trotz brachte sie die Kraft und den Mut auf, „sich aus dem Nichts ein eigenständiges Leben zu erfinden“. Vivian hatte schon als Teenager viel gelesen, war intelligent und meinungsstark und schuf sich mit der Arbeit als Nanny eine gesicherte Existenz. Mit Mitte zwanzig fing sie an, wie besessen zu fotografieren. Für die nächsten vierzig Jahre legte sie die Kamera nicht mehr aus der Hand.

Mit Experimentierfreude perfektionierte sie beständig ihre Fertigkeiten. Sie lichtete Berggipfel und die Landbevölkerung in den französischen Hochalpen ab, wo ihre Familie mütterlicherseits herkam und wo sie Teile ihrer Kindheit verbracht hatte, zog durch die Straßen New Yorks und knipste Stadtstreicher und Straßenarbeiter ebenso wie Damen von Welt.

Das entscheidende Puzzlestück zum Verständnis ihrer Geschichte

Sie zeigte kleine Kinder nicht so, wie sie sein sollten, herausgeputzt und brav, sondern so, wie sie sind: weinend, staunend, lachend, brüllend. Sie jagte unverfroren Stars wie Tony Curtis oder Greta Garbo hinterher, begab sich auf die Spur von Verbrechern und lichtete in Chicago, wo sie seit 1956 lebte, Wahlkampfveranstaltungen und Rassenunruhen ab. Maiers Aufnahmen sind berührend, ergreifend, lustig, grotesk. Mit einem untrüglichen Gespür für den richtigen Augenblick und für gelungene Kompositionen nahm sie alltägliche, beiläufige Szenen und Begegnungen ins Visier. Dabei zeigt ihr Œuvre auch einen tiefen Sinn für zwischenmenschliche Zuneigung, zu der sie selbst nur bedingt fähig war.

Selbstporträt Vivian Maiers am Strand von Staten Island aus dem Jahr 1954
Self-portrait of Vivian Maier on the seashore on Staten Island from 1954Picture Alliance

Als Fotografin verschaffte Maier sich Zugang zur Welt, in der sie als Mensch oft aneckte. Sie war schrullig, hatte ein gestörtes, ambivalentes Sozialverhalten, konnte schroff und kalt sein, war unnahbar, hatte kaum Freunde, lebte wohl nie in einer Beziehung und verließ manche Familien von einem auf den anderen Tag ohne Erklärung.

Denjenigen, die heute kritisieren, dass Vivian Maiers Werk an die Öffentlichkeit gezerrt wurde, obwohl sie das gar nicht gewollt habe, entgegnet Marks, dass sie ihre Bilder in frühen Jahren bereitwillig zeigte und auch versuchte, sie zu verkaufen. Erst mit fortschreitendem Alter gab sie sie kaum noch aus der Hand. Erklärt wurde das unter anderem mit fehlendem Selbstbewusstsein. Tatsächlich aber war Maier sich ihrer Fähigkeiten sehr bewusst. Es waren vielmehr die seelischen Ungeheuer ihrer Kindheit und wohl auch eine genetische Disposition zu psychischer Erkrankung, die dazu führten, dass sie ihr Talent vor der Öffentlichkeit verbarg. Maiers Verhalten nahm zwanghafte Züge an, sie hortete hinter verschlossenen Türen unentwickelte Filmrollen ebenso wie Berge von Zeitungen. Selbst wenn sie es gewollt hätte, sie konnte ihre Bilder nicht loslassen. Sie brauchte sie nicht einmal zu sehen, aber sie musste sie besitzen.

Am Ende mietete sie Lager an, um alles unterzubringen, und versäumte dann, die Miete zu zahlen. So kamen die Aufnahmen zu jener Auktion, auf der John Maloof sie 2007 ersteigerte. Noch bevor man sie ausfindig machen konnte, starb Vivian Maier, weshalb niemand die Chance hatte, mit ihr über ihr Werk zu sprechen – so sie denn dazu bereit gewesen wäre. Marks’ Biographie arbeitet nicht nur Maiers Leben, sondern auch ihr Nachleben akribisch und differenziert auf. Dass die Autorin eine bedrückende Kindheit ins Zentrum der Erzählung rückt, hilft – wie sie selbst einräumt – nicht zwingend bei der Betrachtung von Maiers künstlerischer Leistung. Aber sie liefert damit doch das entscheidende Puzzlestück zum Verständnis ihrer so rätselhaften Geschichte.

Ann Marks: „Das Leben der Vivian Maier“. Die Nanny mit der Kamera. Aus dem Englischen von Nina Frey and Hans-Christian Oeser. Steidl Verlag, Göttingen 2023. 368 S., Abb., geb., 38,– €.

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