She was already portray pc and iris portraits in 1965: Ulla Wiggen in Kassel | EUROtoday
Seit das New Yorker Museum of Modern Art im Herbst 2019 einen Anbau erhielt, gilt auch dort, im Hauptquartier der etablierten Westkunst, die Devise, nicht mehr nur bekannte Werke von weißen alten (oft schon toten) Männern zu zeigen, sondern auch Kunst, die zuvor missachtet wurde. Dabei richteten sich die Blicke zunächst auf den globalen Süden, doch zu Unrecht vergessene Kunst gibt es auch in Europa. Deshalb ist die „Wiederentdeckung“ mittlerweile ein beliebtes Ausstellungsformat.
Wiggen als Hilma af Klint der Jetztzeit?
Das eindrucksvollste Beispiel einer Wiederentdeckung ist zweifellos die kometenhafte Zweitkarriere von Hilma af Klint, deren Gemälde zurzeit in Düsseldorf auf Augenhöhe mit denen von Wassily Kandinsky gezeigt werden. Eine ähnlich spektakuläre Karriere könnte sich jetzt für eine andere Künstlerin anbahnen. Sie heißt Ulla Wiggen, ist ebenfalls Schwedin, geboren wurde sie 1942 in Stockholm, wo sie heute noch lebt und arbeitet. Ihre Werke sind nun im Fridericianum Kassel zu sehen.
Bekannt wurde Ulla Wiggen in den Sechzigerjahren, als sie begann, Computer und elektronische Schaltkreise zu malen. 1968 war sie in London in der legendären Ausstellung Cybernetic Serendipity vertreten. Später zog sie sich völlig aus der Kunstwelt zurück und arbeitete als Psychotherapeutin, doch um 2013 begann sie wieder, zu malen und mit wachsendem Erfolg auszustellen, bis sie schließlich bei der letzten Biennale von Venedig mit ihrem Werk wieder großes internationales Interesse erweckte.
Wiggen arbeitet langsam und gründlich. Hurtig von einem Thema zum nächsten zu springen ist nicht ihre Sache. Sie vertieft sich in die genaue Betrachtung und detaillierte Wiedergabe dessen, was sie vor Augen hat. Ihr Metier, könnte man deshalb sagen, ist das Porträt. Damit ist nicht nur das spezielle Genre der Abbildung identifizierbarer Personen gemeint, sondern – ganz allgemein – die akzentuierte und verdeutlichende Wiedergabe von Gesehenem, wobei die Malerei aber zum Zweck der Verdeutlichung immer mehr oder weniger vom Faktischen abweichen und auf die Kraft der Unähnlichkeit vertrauen muss.
Schon bei den Porträts im engeren Sinn irritieren seltsame Ausschnitte und eine merkwürdig ausgeblichene Farbigkeit, die durch starke Beimischungen von Weiß entsteht. Dadurch bekommen die Bilder einen Zug ins Befremdliche. Auch das Rätsel des Blickes deutet sich hier bereits an. Man beachte zum Beispiel die Vorzeichnung zu dem Bildnis ihres zeitweiligen Ehemannes Peter Cornell mit seinen leeren weißen Pupillen sowie das Porträt der Sphinx mit ihrem stechenden Blick. Schon hier ist zu ahnen, dass Wiggen in ihrer scheinbar neutralen, realistischen Malweise unterschwellig noch etwas anderes zum Ausdruck bringt.
Abweichungen vom visuellen Eindruck charakterisieren auch Wiggens Bilder von Computern. Das berühmteste zeigt einen 1965 gebauten Transistorized Sequence Calculator, der von seinem Konstrukteur, dem schwedischen Ingenieur Gunnar Hellström, auf den Namen „Trask“ getauft wurde. Der Rechner, heute im Tekniska Museet in Stockholm, hat die Größe einer Schrankwand, etwa sechs Meter breit und zwei Meter hoch, und er besteht aus zahlreichen miteinander verdrahteten Komponenten, die sich so ähnlich zusammenfügten wie die Einzelteile einer Assemblage von Louise Nevelson. Wiggen komponierte einzelne Elemente des Rechners auf einer Hartfaserplatte im Hochformat von 150 mal 80 Zentimetern. Dabei eliminiert sie die physische Räumlichkeit zugunsten eines zweidimensionalen Diagramms. Nur drei bräunliche Zylinder im unteren Bereich behalten noch ein gewisses Volumen. In strikter Frontalität steht uns die neu zusammengesetzte Maschine als eine lebensgroße Figur gegenüber, die mit ihrem tadellosen Aussehen einem Jüngling gleicht, der soeben den evangelischen Konfirmandenunterricht besucht hat. Der brave Rechner hat zwar keine Augen, blickt uns aber erwartungsvoll an. Wir aber wissen nicht, wie man ihm einen Befehl erteilen könnte, denn wir sehen nur Speicher und Kabel, keine Knöpfe oder Schalter. Und selbst wenn man sie sähe, bliebe, wie schon Bertolt Brecht erkannte, das eigentlich Interessante verborgen: die Funktion. Das Bild zeigt nur die äußere Erscheinung, die einen gepflegten, unverdächtigen Eindruck macht. Alles ist sauber und trocken, und sämtliche Kabel sind straff gespannt oder dekorativ geschwungen.
Jede Iris ist ein Individuum
Gerade darin verbirgt der Rechner seinen Anspruch auf Autonomie. Wer auf seine Unterwürfigkeit vertraut, könnte sich täuschen. Das verbindet ihn mit dem Computer aus Stanley Kubricks gleichzeitig entstandenem Film „2001: A Space Odyssey“. Dieser steuert ein riesiges Raumschiff zum Jupiter und will die gesamte menschliche Besatzung umbringen. Er spricht mit leiser Stimme und zeigt sich stets nur in Gestalt eines dunkelroten Auges. Dieses Auge hat, anders als das menschliche, keine Iris. Wiggen hingegen malt seit vielen Jahren große runde Bilder, bei denen sie mit enormem Aufwand die Iris im Auge ihr bekannter Personen wiedergibt.
Biometrisch gesehen ist die Iris angeblich einmalig wie ein Fingerabdruck. Wenn man sie malt, müsste demnach ein unverwechselbares Porträt einer bestimmten Person entstehen, und tatsächlich wird deren Name seit 2019 auch im Titel genannt. Doch weder das Bild noch seine Beschriftung sagen, was das für eine Person ist. Die Iris ist eine Maske, eine ornamentale Umrahmung, doch in der Mitte des stark vergrößerten und isolierten Zyklopenauges lauert immer das schwarze Loch der Pupille, das uns mit einem anonymen Blick anstarrt. Das ist eine eindrucksvolle Erfahrung, und deshalb darf man Danke sagen, denn hier wurde eine Künstlerin wiederentdeckt, die durch ihre präzise, beschreibende Malerei manches evoziert, was sich im Offensichtlichen verbirgt.
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