The colossus of Oscar winner Hein Heckroth | EUROtoday

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An jenem Tag ahnt Philip Fust während der Fahrt ins Hessische Hinterland westlich von Marburg noch nichts von dem großen Fund, den er machen wird. Fust handelt mit Designware aus vergangenen Tagen. Da kommt ihm der Ausverkauf der Restbestände aus einem alten Bürgerhaus in Biedenkopf gerade recht. Der 1970 eröffnete und lange Zeit privat genutzte Bau hat seine besten Zeiten hinter sich und soll weichen. „Alles muss raus“, lautet das Motto mit Blick auf das Interieur. Der Händler ersteigert dies und das. In Gießen zeigt er seinem Nachbarn Ronnie Martin die Gegenstände und ein Foto. Möbeldesigner Martin schaut sich das Bild genauer an und fragt dann: „Was ist das?“ Dass es von einem hessischen Oscarpreisträger stammen könnte – kein Gedanke.

Auf der Aufnahme scheint ein Gemälde hinter einem Vorhang hervorzulugen. Aber die Frage bleibt: „Was ist das?“ Martin und Fust erkundigen sich bei der Stadt Biedenkopf, ob das Werk ebenfalls zu haben ist. Ist es. Es entpuppt sich in der Tat als Gemälde. Die beiden erwerben es gemeinsam mit Martins Geschäftspartner Henrik Wie­necke und transportieren es nach Gießen. Die erste Idee lautet, wie sich der Möbeldesigner erinnert, das Fundstück auf einem Messestand zu verwenden, als eine Art dekorative Rückwand. „Doch diese Idee haben wir rasch verworfen“, sagt er in seinem Schauraum in einem Gewerbegebiet an der Lahnstraße unweit des Bahnhofs. Denn das Gemälde eignet sich für einen solchen Zweck aus einem einfachen Grund nicht. Zwar lässt es sich wie ein Paravent platzieren. Aber: „Es ist viel zu groß.“ Besteht es doch aus zehn Teilen mit einer Höhe von jeweils 4,90 Metern. Nebeneinandergelegt breiten sich die Teile über eine Länge von 14 Metern aus. Zudem wiegen sie zusammen zwei Tonnen. „Bombastisch“, so habe der erste Eindruck gelautet, schwärmt Martin in der Rückschau auf den Tag der Entdeckung im Spätherbst vergangenen Jahres.

„Der berühmte Maler Gießens“

Nun ist zwar ihre grundlegende Frage beantwortet. Allerdings drängt sich umgehend die nächste auf: „Wer hat es gemalt?“ Das Gemälde trägt keine Signatur. Es ist auch nicht gegenständlich. In Braun-, Rot- und Blautönen aus Acrylfarbe gehalten, wirkt das Werk sehr ernst und metallisch. Es könnte Kraterlandschaften zeigen, so der Augenschein. Auch Sonnenmotive sind zu sehen. „Wir haben angefangen zu recherchieren, in alten Ausgaben der ,Oberhessischen Presse‘ und des ,Hinterländer Anzeigers‘“, sagt Martin. Und sie riefen einen betagten Bauunternehmer an, der seinerzeit viele Aufträge erledigt hat im Hinterland. Auf die Frage, ob er wisse, wer den Koloss gestaltet haben könnte, habe der Mann geantwortet: „Der berühmte Maler Gießens.“

Sonnenuntergang: Ausschnitt aus einem der zehn Teile des Kolossalgemäldes von Hein Heckroth
Sunset: Detail from one of many ten components of the colossal portray by Hein HeckrothPeter Jülich

Dieser Hinweis macht es den Käufern des Gemäldes recht leicht, auf den mutmaßlichen Urheber zu kommen. Die Stadt an der Lahn hat zwar viele Wissenschaftler von Rang hervorgebracht, aber nicht viele Maler mit einem großen Namen. „So sind wir bald auf Hein Heckroth gekommen“, sagt Martin. Heckroth war ein 1901 in Gießen geborener deutsch-britischer Maler, Bühnenbildner und Filmdesigner. 1949 erhielt er für die Ausstattung des britischen Ballettfilms „The Red Shoes“ einen Oscar, später arbeitete er als Chefausstatter der Städtischen Bühnen in Frankfurt und wirkte an einem Film Alfred Hitchcocks mit. Es war der fünfzigste Film des Meisters, und laut Überlieferung wollte Hitchcock unbedingt Heckroth als Ausstatter haben. Im Juli 1970 starb der Künstler überraschend in Alkmaar.

Mit diesem Wissen rief Martin bei Marcus Kiefer an. Der Kunsthistoriker und Vorsitzende der Hein-Heckroth-Gesellschaft Gießen zeigte sich nach seinen eigenen Worten verblüfft von der Nachricht des Funds in Biedenkopf: „Das müsste ich doch kennen.“ Kiefer recherchierte umgehend selbst. Heckroth hat zwei Enkel, einer von ihnen hat dem Oberhessischen Museum in Gießen ein Inventar mit 500 Stücken in Dauerleihe zur Verfügung gestellt, wie Kiefer im Schauraum des Designers berichtet. In der Liste landete er einen Treffer. „Fünf Entwürfe für Biedenkopf“ seien darin aufgeführt.

In Tagebucheinträgen fand Kiefer weitere Hinweise. Zwanzig Notizen habe der Künstler zu Biedenkopf hinterlassen, die erste stamme vom Januar 1970. Demnach hatte das Ehepaar Heckroth eines Tages den Architekten Hansjörg Kny zu Gast. Kny habe gefragt, ob der Künstler an dem Auftrag interessiert sei, ein Gemälde für das Bürgerhaus zu erstellen. Der Sohn des Geschäftspartners von Kny verfüge bis heute über Unterlagen zu diesem Vorgang. Heckroth habe auf ein Honorar von 10.000 Mark gehofft. Das Geld habe er angesichts eines recht aufwendigen Lebensstils mit Champagner zum Mittagessen und Ausfahrten in seinem Bentley wohl gut gebrauchen können. Dessen ungeachtet habe sich Heckroth auch und gerade als Maler verstanden.

Wenige private Käufer für ein Bild dieser Größe

Heckroth nahm den Auftrag an. Martin geht davon aus, dass er im Frankfurter Theater gemalt und sich in Räumen der Messe mit der Aufhängung beschäftigt hat. Fertigstellen konnte er das Werk aber nicht. Sein überraschender Herz-Tod hielt ihn davon ab, wie Kiefer sagt. Deshalb fehle auch die Signatur. Ein anderer Maler hat das Bild vollendet. So hat Heckroth die Eröffnung des Bürgerhauses im November 1970 nicht mehr erlebt und auch nicht, wie das Publikum sein Gemälde aufnahm, für das er auch Jute in einem Material-Mix verwendete.

Schwergewicht: Ein Teil des Kolossalgemäldes braucht vier starke Arme, um es zu heben
Heavyweight: Part of the colossal portray wants 4 sturdy arms to raise itPeter Jülich

Wie viel das Werk heute wert ist im Lichte der Erkenntnisse? Kiefer wagt keine Prognose. „Das ist schwer zu sagen, weil es für ein Bild dieser Größe kaum einen privaten Käufer gibt.“ Aus Sicht von Martin passt es aber durchaus in die heutige Zeit. Kupfer- und Bronzetöne seien wieder beliebt. Was mit dem Gemälde längerfristig passiert, ist nach den Worten Martins offen. Zunächst wird das Werk vom 23. bis 29. Mai auf dem Kreiling-Areal am Hüttenweg in Gießen zu sehen sein. Die Schau ist auch Teil der Kulturnacht am 25. Mai. Aus Sicht von Kiefer wäre die örtliche Kongresshalle der ideale Ort für eine dauerhafte Präsentation. Stammt sie doch aus der gleichen Epoche wie das Gemälde.

https://www.faz.net/aktuell/rhein-main/vergessenes-gemaelde-der-koloss-des-oscar-gewinners-hein-heckroth-19719511.html