The winners of the Meran Poetry Festival | EUROtoday

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Zwar bewegte sich der Kristallbehang des mächtigen Kronleuchters im Pavillon des Fleurs nicht, doch darunter kam spürbar Meereswind auf: jene Brise, die über die kroatische Insel Susak hinweg­streicht, „die perlmutterne schale des meers / das hinterste eiland im kvarner“. Als das Meraner Kurhaus 1874 ein­geweiht wurde, gehörten Slowenien und Kroatien noch zum Habsburgerreich. Nun brachte die 1987 im slowenischen Novo Mesto geborene Wahlwienerin ­Tamara Štajner „sotto voce“ pfeifend und flüsternd meteorologische und ge­schichtliche Phänomene ihrer Heimat hierher. Aufgeteilt in Mutter- und Vater­linie spürt die Bratschistin, die 2023 mit „Raupenfell“ (erschienen im Verlag Das Wunderhorn) als Romanautorin debütierte, sowohl den Punkten und Muttermalen nach, die sich genealogisch durchsetzen („bekommt die schwangere nicht was sie will / so wird das kind viele punkte haben“), als auch weniger lieblichen Archipelen Jugoslawiens wie „titos hawaii“, der Gefängnisinsel Goli otok. Für sie steht das „bildnis des großvaters als ausgemergelter mann / im ausbleichenden adrialicht“.

Tamara Štajners berückender poetisch-musikalischer Vortrag machte mit seiner performativen Kraft hörbar Eindruck im Saal, auch der Jury des Lyrikpreises Meran, die ihr ebendiesen verlieh, dotiert mit achttausend Euro und gestiftet von der Südtiroler Landesregierung. Indem Štajners Zyklus „balkan ultra“ alle Mittel der Sprache „virtuos nutzt, erzeugt er innerhalb der historischen Tiefenschichten größte Sinnlichkeit und Klarheit“, heißt es in der Begründung. Aus 256 anonymisierten Einsendungen waren 35 in die engere Wahl gekommen, von denen wiederum neun Finalisten eingeladen wurden.

Mit für ihn typischer Prägnanz destillierte der Moderator Ernest Wichner aus jedem Konvolut ein bis zwei charakteristische Strophen, um die Diskussionen der Jury einzuleiten. Zur „Lyrik im Gespräch“, wie der Untertitel des 1993 begründeten Wettbewerbs heißt, hatte diesmal ein durch die Wälder Südtirols mäandernder Vortrag vorbei am „Gasthaus Tschigg“ der Dichterin Monika Rinck hingeführt. Bei ihrem Parcours „Mit dem falschen Wanderführer im richtigen Wald – Genredichtung und Verse über das Ende hinaus“ mied sie alles Innige wie giftige Pilze und lobte das Genre als „Maske, mit deren Hilfe die Wirklichkeit das Gedicht betritt“.

Sehnsucht nach Amerika ohne Rassismus

Die Poeme der transatlantisch erfahrenen Esther Dischereit können in das Genre des Roadmovies schlüpfen, um beiläufig die Sehnsucht nach dem „anderen Amerika“ aufzurufen, aber ebenso sub­kutanen Rassismus in den Südstaaten. Der schlichte Reinigungs-Kleider­bügel „Draht K-Form 24 Cent“ nimmt in „ich werfe sie weg“ eine balladeske Bedrohlichkeit als Symbol für illegale Abtreibungen an. Esther Dischereits ellip­tische Gedichte „versetzen diejenigen, die sie lesen, selbst in die Situation, diese Signale zu deuten und somit Gewalt zu erkennen“, so die Begründung für den ihr zugesprochenen Al­fred-Gruber-Preis (viertausend Euro, gestiftet von der Südtiroler Sparkasse). Deutlich politischer, dabei von slawischer Empathie bis Emphase getragen, schreibt der aus Tscheljabinsk im Ural stammende Andreas Andrej Peters. Mit melancho­lischem Witz durchdringt er die Verbrechensgeschichte von der russischen „Spezialoperation“ bis zurück zu Napoleon, der das Wort „Allee“ in den deutschen Sprachgebrauch importiert habe.

Wie tröstlich, dass trotz aller Beschwernisse zwischen „hymmel“ und „hygel“ mitunter ein „fulk“ auftaucht. Dieses scheue Wesen ist zum erstaun­lichen Phänomen der „gesamtgeburt“ fähig. Die Gedichte von Sebastian Schmidt, Jahrgang 1983, rufen mit „fast unerlaubter Leichtigkeit“ (so Dagmara Kraus, Dichterin und Jurymitglied) ein „leises land“ der Tagesdecken, Spielplätze und einer „fernbedienung aus alter zeit“ auf, kontrastiert von eistee­kalten „Investmentweisheiten“. Schmidts reiz­volle Neologismen, so das Jurymitglied Anton Thuswaldner, zeigten „Mischungsverhältnisse des Individuums im 21. Jahrhundert“ auf. Hochverdient erhielt der Würzburger den von der RAI Südtirol gestifteten Medienpreis (2500 Euro).

Unerwartete erotische Erlebnisse

Ihren Alltag als Schriftstellerin und Mutter hat Janin Wölke (Leipzig) in ein spannendes experimentelles Langgedicht einfließen lassen, das die husserlsche Phänomenologie in Beziehung zu kaputten Hosenbeinen oder Blickkontakten im Zug setzt. Nicht nur der Juror Matthias Kniep erkannte hier einen Versuch der neuen Subjektivität, der die Ansätze der Siebziger aus weiblicher Perspektive erneuert. Um das theoriegesättigte „Reglement der Turbulenzen“ bemüht sich die Heidelbergerin Miriam Tag, die sich als „somatische Mystikerin“ vorstellt. In ihren Gedichten mit englischen Titeln und Rilke-Anklängen geht es im Sinne der Theoretikerin Donna Haraway um das Überwinden von Gattungsgrenzen, was unerwartete erotische Erlebnisse zeitigen kann.

Franziska Ostermann aus Kiel arbeitet als multimediale Künstlerin und appliziert entsprechende Verfahren auf ihre üppige Lyrik voller Nähte und Übergänge: „Ich drucke dir eine Koralle und du setzt sie ins Meer wie einen Text.“ Peter Giacomuzzi (Innsbruck) und Rainer Stolz (Berlin) wiederum haben eigene Strategien entwickelt, um der aktuellen Ratlosigkeit entgegenzuwirken: Giacomuzzi grimmig-aphoristische Tagesnotate zur „poly dick“, die den Kalauer nicht scheuen; Rainer Stolz einen Fundus an neologistischem Motivationsvokabular zwischen „thoreau-syndrom“ und „notaufnahme“. Er generiert herrliche Komposita aus den „schaltkreisen des erledigungs­wesens“, kann aber auch zur „ernstverschlimmerung“ führen.

Das Publikum hatte leider Mühe, alldem zu folgen, da diesmal nicht die gewohnte und geschätzte Broschüre mit den Texten und Porträts der Finalisten auslag: Kurzfristig habe kein Geld für den Druck zur Verfügung gestanden, hieß es. Das empörte nicht nur Elmar ­Locher, den Präsidenten des internationalen Komitees „Lyrikpreis Meran“. Sollte das poetische Aushängeschild der Kurstadt den politisch Verantwortlichen tatsächlich so wichtig sein, wie bei der Preisverleihung behauptet, sollte so etwas nicht mehr vorkommen.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/die-gewinner-des-lyrikfestivals-meran-19733107.html