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„Wenn es gar nichts mehr gibt, über das man sich freuen kann, dann entwickelt man irgendwann einen seltsamen Humor“, sagt Rami. „Wie ein Stöckchen“ sehe er aus, sagt der 27 Jahre alte Palästinenser aus Gaza und lacht bitter ins Telefon. Neunzig Kilo habe er vor dem Krieg gewogen, mittlerweile seien es keine sechzig mehr. „Natürlich ist das nicht lustig“, schiebt er hinterher. Und doch könne er sich im Vergleich zu anderen in Rafah noch glücklich schätzen.

Als Mitarbeiter der deutschen Hilfsorganisation „Cadus“ gehört Rami zu denjenigen, die sich trotz der israelischen Evakuierungsaufrufe dazu entschlossen haben, vorerst in der Grenzstadt im südlichen Gazastreifen zu bleiben. Gemeinsam mit einem medizinischen Team will er den dort verbliebenen Menschen helfen, solange es irgendwie möglich ist. Viele andere hätten diese Wahl nicht freiwillig treffen können, sagt er. „Die Alten, Kranken und Schwerverletzten haben schlicht keine Kraft mehr, um schon wieder zu fliehen. Aber die Kämpfe rücken mit jedem Tag näher.“

Gut zwei Wochen sind vergangen, seitdem die israelische Armee ihre lange angekündigte Offensive im Osten Rafahs begonnen hat. Vier der sechs verbliebenen Hamas-Bataillone sollen sich israelischen Angaben zufolge in der Stadt im Süden befinden. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sagt, ein Sieg über die Terrororganisation sei ohne eine Großoffensive dort nicht möglich. Der amerikanische Präsident Joe Biden hatte wiederholt gemahnt, ein Angriff auf Rafah ohne eine vorherige Evakuierung stelle für ihn eine „rote Linie“ dar. Anfang Mai begann die israelische Armee daraufhin, die Bewohner der Stadt über Flugblätter, Anrufe, Radio- und Fernsehnachrichten dazu aufzurufen, sich in Sicherheit zu bringen.

Traumatisierte Kinder irren durch die Straßen

800.000 der zwischenzeitlich mehr als 1,4 Millionen Menschen haben das Gebiet nach Angaben der Vereinten Nationen seitdem verlassen, Israel spricht bereits von 950.000. Einige haben sich in den Norden in Richtung des zerstörten Khan Yunis geflüchtet, andere haben sich auf den Weg nach Al-Mawasi gemacht. In dem an Rafah angrenzenden Küstenstreifen hat die israelische Armee eine „humanitäre Zone“ ausgewiesen, die sich bis nach Deir al-Balah im Zentrum des Gazastreifens erstreckt. Für die palästinensische Bevölkerung stünden dort „Feldkrankenhäuser, Zelte und größere Mengen an Nahrungsmitteln, Wasser, Medikamenten und zusätzlichen Hilfsgütern“ bereit, hieß es in dem entsprechenden Post der Armee auf der Plattform X.

Die wenigen Lebensmittel auf den Märkten kann sich kaum noch jemand leisten: Kinder warten in Rafah an einer Ausgabestelle für Nahrungsmittel.
Hardly anyone can afford the few food items available in the markets: children wait at a food distribution point in Rafah.AFP

Glaubt man den Berichten von Hilfsorganisationen vor Ort, sehen die Zustände hingegen anders aus. „In Deir al-Balah fehlt es an allem“, sagt etwa die „Save the Children“-Mitarbeiterin Rachel Cummings im Telefongespräch mit der F.A.Z. Innerhalb von Tagen hätten sich die schlecht ausgestatteten Lager mit Hunderttausenden Menschen gefüllt, überall irrten traumatisierte Kinder umher, die ihre Familien verloren hätten. Krankheiten breiteten sich rasant aus. Die Zelt-Bestände seien längst aufgebraucht, bei Nahrungsmitteln und sauberem Wasser sehe es kaum anders aus.

Ihre Beschreibungen werden auch von anderen Hilfsorganisationen bestätigt. Wie das International Rescue Committee (IRC) am Mittwoch mitteilte, muss die Zivilbevölkerung im Zentrum des Gazastreifens derzeit mit drei Prozent des international anerkannten Mindeststandards an Wasser auskommen. Latrinen würden teilweise von 600 Menschen genutzt, der Mindeststandard sehe maximal 20 Personen vor. „Die Menschen sind in Massen hier her geströmt, weil sie sich vor den Bomben in Rafah Sicherheit bringen wollten“, sagt Cummings dazu. „Aber auch hier ist jeder Tag ein reiner Kampf ums Überleben.“

Dreißig Prozent Gebühren für das Abheben von Bargeld

„Die Evakuierungen sind schrecklich für die Leute“, sagt auch Rami aus Rafah. Eigentlich stammt der junge Palästinenser aus Gaza Stadt, seit Beginn des Krieges im Oktober musste er selbst schon vier Mal fliehen. Über WhatsApp schickt er Bilder von Eselskarren, auf denen sich Berge von Matratzen und Stoffbündeln auftürmen, dazwischen Kinder in zerlumpten Kleidern. Andere Fotos zeigen verlassene Zelte, die die Menschen bei ihrem panischen Aufbruch in Rafah zurücklassen mussten. „Sieben Monate Krieg, und jedes Mal wieder eine Reise in die Ungewissheit“ sagt er. „Bei jedem Aufbruch wächst die Angst vor dem, was kommt. Jeder weiß, dass es in Gaza keine sicheren Orte mehr gibt. Aber am schlimmsten ist es für die, die nicht einmal mehr versuchen können, sich in Sicherheit zu bringen.“

Hunderttausende, die zu schwach für die Flucht zu Fuß waren und die vielen hundert Dollar für ein Busticket in Richtung Norden nicht aufbringen konnten, hätten sich nun im äußersten Westen Rafahs angesiedelt, erzählt der Palästinenser. Die Kämpfe, die im von Israel zur „roten Zone“ erklärten Osten der Stadt toben, seien von dort aus deutlich zu hören. Aktuelle Berichte darüber, dass die israelische Armee den Umfang ihrer Offensive südlichen Gazastreifen auf Druck der Amerikaner reduzieren könnte, hält er für wenig glaubwürdig. „Ständig fliegen die Kampfflugzeuge über unsere Köpfe hinweg“, erzählt er. Am furchteinflößendsten sei das ohrenbetäubende Donnern der F-16-Maschinen. Immer häufiger würden die Angriffe aus der Luft, hinzu komme Beschuss von israelischen Kriegsschiffen vor der Küste. „Die Menschen haben Panik, und wir können sie ihnen nicht nehmen“, sagt Rami. „Irgendwann wird Israel auch hier mit voller Kraft angreifen. Es ist nur eine Frage der Zeit.“

Neben der Angst vor den israelischen Bomben sei es aber auch die humanitäre Lage, die die in Rafah verbliebenen Menschen immer tiefer in die Verzweiflung stürze. Die wenigen Lebensmittel auf den lokalen Märkten könne sich kaum noch jemand leisten, die Preise seien teilweise um das zwanzigfache gestiegen. Weil die beiden Geldautomaten in der „roten Zone“ im Osten Rafahs nicht mehr zugänglich seien, komme man ohnehin nur noch schwer an Bargeld. Wer doch etwas abheben wolle, sei auf Privatpersonen und kriminelle Banden angewiesen. Die wiederum verlangten für die Auszahlung Gebühren von dreißig Prozent.

400 Dollar für eine Flasche Benzin

Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) teilte am Mittwoch mit, in Rafah gebe es mittlerweile keine einzige funktionierende Bäckerei mehr. In den vergangenen zwei Wochen seien derweil so wenige humanitäre Güter in den Gazastreifen gelangt wie seit Dezember nicht mehr. Auch Rami erzählt, dass sich das Warten auf die nächste Hilfslieferung zu einem Glücksspiel entwickelt habe, bei dem die Chancen immer schlechter stünden. Vor einigen Tagen seien mehrere Lastwagen mit Keksen und Chips angekommen, aber das sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Eine richtige Mahlzeit hätten viele der ausgehungerten Menschen seit Monaten nicht mehr zu sich genommen, hinzu komme auch in Rafah der dramatische Mangel an Wasser. „Die Schlangen an den wenigen Wasserstellen sind endlos“, erzählt er. Die vielen dehydrierten und mangelernährten Kinder, die er in dem kleinen Feldlazarett von „Cadus“ gesehen hat, kann er längst nicht mehr zählen.

„Auch in der humanitären Zone fehlt es an allem“: Palästinenser warten in Deir al-Balah vor einer Wasserstelle.
“Even in the humanitarian zone everything is lacking”: Palestinians wait in entrance of a water level in Deir al-Balah.Getty

Für die Hilfsorganisationen, die versuchten, das Elend zu lindern, werde die Arbeit derweil immer schwieriger. Das Palästinenserhilfswerk der Vereinten Nationen UNRWA hat in dieser Woche angekündigt, die Lebensmittelausgabe in Rafah vorerst einzustellen. UNRWA-Chef Philippe Lazzarini begründete die Entscheidung am Dienstag auf X mit Lieferengpässen und Sicherheitsrisiken bei der Verteilung. „Die Verzweiflung macht die Menschen aggressiv, sie stürzen sich auf alles, was sie kriegen können“, sagt Rami dazu. Auch er hat bereits Erfahrungen mit gewalttätigen Tumulten gemacht. Erst kürzlich sei er in einem „Cadus“-Fahrzeug von einer mit Stöcken bewaffneten Menge von Menschen aufgehalten worden, die im Kofferraum Lebensmittel vermuteten. Erst als er ihnen klargemacht habe, dass er medizinische Güter geladen habe, hätten sie von ihm abgelassen.

Wie lange solche Transporte überhaupt noch möglich sind, hält er aber auch aus anderen Gründen für ungewiss. Seit zwei Wochen dürfen humanitäre Helfer übereinstimmenden Berichten zufolge weder aus Gaza aus- noch einreisen. Für die Organisation „Cadus“ bedeutet das auch, dass die Medikamente, die sonst von den Helfern aus Deutschland mitgebracht werden, nicht mehr aufgefüllt werden können. „Die Menschen sind krank, aber wir haben immer weniger Mittel, um ihnen zu helfen“, sagt Rami. Hinzu komme der dramatische Treibstoffmangel, vor dem auch andere Hilfsorganisationen seit Wochen immer lauter warnen. In der vergangenen Woche habe er es noch geschafft, eine Flasche Benzin für 400 Dollar zu kaufen, erzählt der junge Palästinenser. „Das nächste Mal kostet sie wahrscheinlich das doppelte – und beim übernächsten Mal ist dann vielleicht schon gar nichts mehr da.“

Den Versuch, weiter in die Zukunft zu denken, hätten die Menschen in Gaza aber ohnehin längst aufgegeben. „In ihrer Verzweiflung klammern sich die Leute an das kleinste bisschen Hoffnung, aber jedes Mal werden sie wieder enttäuscht“, sagt Rami. Als Anfang Mai kurzzeitig die Nachricht die Runde machte, die Hamas habe einem israelischen Vorschlag für einen Geiseldeal mit einer Feuerpause zugestimmt, seien auf den Straßen schlagartig Feiern ausgebrochen. „Die Menschen sind sich weinend in die Arme gefallen“, erzählt er. „Allein die Aussicht auf 30 Minuten Pause von dieser Hölle hat ihnen Freudentränen in die Augen getrieben.“ Doch auch in diesem Fall folgte die Enttäuschung schnell. Das Abkommen kam nie zustande, die Kämpfe gingen weiter. „Wer in Gaza lebt, weiß, dass er jeden Moment sterben kann“, sagt Rami zum Abschluss. „Das einzige, worauf man hier noch hoffen kann, ist den nächsten Tag zu überstehen.“

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