Lutz Dursthoff’s e-book “Obituary for Paradise” | EUROtoday

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Jetzt bitte kein Wohlstandsgejammer angesichts großer Not. Das könnte man zumindest denken, wenn man den Titel von Lutz Dursthoffs Buch liest: „Nachruf aufs Paradies. Meine Frau, unsere russische Datscha und ich“. Tatsächlich ist der frühere Cheflektor des Sachbuchs bei Kiepenheuer & Witsch klug genug, nicht sehenden Auges in diese Falle zu tappen. Stattdessen betont er immer wieder, wie banal die eigenen Sehnsüchte vor dem Hintergrund des Angriffskrieges sind. Und er schildert die zwiespältigen Empfindungen zwischen der Abscheu vor einem diktatorischen Regime und der über Jahrzehnte gewachsenen Verbundenheit zu einem entlegenen Ort und den Eigenheiten seiner Bewohner – immer geknüpft an die Frage, inwiefern das überhaupt zu trennen ist.

Entstanden ist dieser Bezug vor allem durch Dursthoffs Frau Galina, die er 1990 auf einer Dienstreise in das Russland der Perestroika kennenlernte, worauf schon bald die Hochzeit und damit die Beschäftigung mit der Kultur des Landes folgten. Die Idee, seine Erlebnisse aus der Zeit in Russland zu einem heiteren Buch zu verschriftlichen, trug der Autor seit geraumer Zeit mit sich herum. Dann griff, kaum dass er die Umsetzung begonnen hatte, Russland die Ukraine an.

Soldaten, Komposthaufen und Alkoholprobleme

Doch Dursthoff dachte nicht daran, das Projekt ad acta zu legen. Stattdessen erweiterte er seine Erinnerungen um jene unter dem Eindruck des Kriegs entstandenen Erfahrungen. So verkauft der Titel das Buch etwas unter Wert, immerhin leuchtet Dursthoff die Familiengeschichte seiner Frau, wie auch zahlreiche Innenansichten der russischen Gesellschaft aus – wobei er zwischen augenzwinkernden Kuriositäten und beinahe soziologischen Befunden wechselt.

Lutz Dursthoff: Nachruf aufs Paradies. Meine Frau, unsere russische Datscha und ich.
Lutz Dursthoff: Obituary for paradise. My spouse, our Russian dacha and me.Kiepenheuer & Witsch

Die im Untertitel angeführte Datscha bezeichnet für Russland typische Ferienhäuser, meist am Stadtrand oder auf dem Land gelegen. Lutz Dursthoff und seine Frau haben sich jedes Jahr für mehrere Monate aus Köln in ein abgelegenes Dorf nahe der belarussischen Grenze namens Uskoje zurückgezogen, wo sie die Familiendatscha seiner Schwiegermutter bewohnten. Das Ehepaar baute die Bruchbude zu einer russischen Villa Kunterbunt mit etlichen Nebengebäuden, Gewächshäusern und einer Sauna aus.

Neben Anekdoten über das Werkeln und Gärtnern finden sich bei Dursthoff ebenso viele gesellschaftliche Beobachtungen. Besonders kurios sind etwa die Erzählungen zum Aberglauben der Dorfbevölkerung oder zur Praxis, russische Produkte mit Etikettierungen erfundener deutsch klingender Marken zu vertreiben. Schilderungen über einen aufscheinenden Antisemitismus oder die Haltung einiger Dorfbewohner zur Regimepropaganda stimmen dagegen nachdenklich.

Zwar kommt die episodische Struktur, mit der Dursthoff seine Erfahrungen darlegt, der anekdotischen Erzählweise entgegen, doch wünscht man sich beim Lesen, dass er die Ausführungen zumindest nach übergeordneten Gesichtspunkten oder chronologisch gegliedert hätte. Stattdessen springt er recht assoziativ von einem Thema zum nächsten. So geht es beispielsweise erst um den Einzug von Soldaten aus den ärmsten Regionen Russlands, dann um den Komposthaufen des Ehepaars und eine Seite später um deutsche Lehnwörter im Russischen.

Mit dieser wechselhaften Erzählweise versäumt es Dursthoff an einigen Stellen, Themen von größerer sozialer Dimension zu erschließen, etwa das Alkoholproblem vieler Menschen in der russischen Provinz. Eher nebenbei berichtet er, dass der Sohn einer dorfbekannten Trinkerin, die sich nicht um ihre Kinder sorgt, einmal in der Datscha aufgetaucht ist. Was aber folgte daraus? So bleiben in diesem lesenswerten Buch immer wieder manche Aspekte der russischen Gesellschaft unterbelichtet, von denen der nur oberflächlich mit dem Land vertraute Leser wohl nichts ahnt.

Lutz Dursthoff: Nachruf aufs Paradies. Meine Frau, unsere russische Datscha und ich. Kiepenheuer & Witsch Verlag, Köln 2024. 256 S., geb., 23,– €.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/lutz-dursthoffs-buch-nachruf-aufs-paradies-19738682.html