USA: Abwanderung, Elend, Drogen – Erschreckender Abstieg Kaliforniens | EUROtoday

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Ein lauwarmer Aprilabend in Los Angeles, in den Glasfassaden der Skyline spiegelt sich die untergehende kalifornische Sonne. Arayik Sargsyan hat ein Problem. Mal wieder sind die Straßen verstopft. Regelmäßig steht der Großraum Los Angeles, eine 15.000 Quadratkilometer große Betonwüste, in den Abendstunden vor dem Verkehrskollaps.

Das sorgt bei den Angelinos, wie sich die Einwohner der Stadt nennen, für Frust. Und bei Sargsyan für Minus in der Kasse. Geld verdient er professional gefahrenem Kilometer, jede Minute im Stau ist ein Verlustgeschäft. Seine Familie kann er mit der Fahrerei nicht über die Runden bringen, erzählt der Mittvierziger, der aus Armenien in die USA einwanderte. Nebenbei führt Sargsyan einen Catering-Service, steht dort auch in der Küche. Zwei oder drei Jobs gleichzeitig – für viele Kalifornier ist das mittlerweile ganz regular.

Sargsyan flucht im Verkehrschaos, schlägt mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Dass der Vater von zwei Töchtern einen großen Teil seines Lebens im Stau verbringt, hat mit einer Stadtplanung zu tun. Los Angeles wurde seit den 1930ern zur Auto-Metropole umgebaut. Damals hatte die Stadt mit rund 2000 Kilometern das größte Straßenbahnnetz der Welt.

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Die Fläche der Stadt vervielfachte sich seitdem, die öffentlichen Verkehrsmittel aber reichen für die 13 Millionen Einwohner der Region nicht aus. Viele meiden Bus und Bahn: Drogenkonsum, Gewalt und Obdachlosigkeit sind dort zum Alltag geworden.

In Los Angeles hat man sich an das Elend gewöhnt. Wer es sich leisten kann, geht dem Ganzen aus dem Weg. Wer nicht, muss die Zustände aushalten. Die Situation auf den Straßen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln ist nur eine der Zumutungen im Alltag der Kalifornier. Hohe Preise für Lebensmittel, Gesundheitsvorsorge und Wohnraum, die landesweit höchsten Steuern und steigende Kriminalität: Kalifornien – der gelobte „Golden State“ – hat stark an Attraktivität verloren.

Arayik Sargsyan überlegt, mit seiner Familie von Los Angeles nach Las Vegas zu ziehen

Arayik Sargsyan überlegt, mit seiner Familie von Los Angeles nach Las Vegas zu ziehen

Quelle: Jan Klauth

Zwar ist der Bundesstaat mit einem BIP von 3,6 Billionen Dollar weiterhin der wirtschaftsstärkste Landesteil. Doch trotz hoher Migrantenzahlen verliert Kalifornien erstmals seit Jahrzehnten an Einwohnern, viele Firmen sind in andere Landesteile abgewandert.

Die Flucht von Gutverdienern und Unternehmen, eine desolate Haushaltspolitik, kombiniert mit der außer Kontrolle geratenen Drogenkrise und der zunehmenden Bedrohung durch den Klimawandel stellen das alte Erfolgsmodell Kaliforniens zunehmend infrage. Und einer schlägt aus dem Frust über die Missstände besonders Profit: Präsidentschaftskandidat Donald Trump.

Das Ende von „Go West“

360 Kilometer östlich von Los Angeles. Rund um Las Vegas wimmelt es von Kränen, es herrscht ein Bau-Boom. Die zum Verwechseln ähnlich aussehenden Vororte der Glücksspiel-Metropole fressen sich in die Wüste hinein. Von einer riesigen Werbetafel streckt den Passanten ein Mann mit Gelfrisur und lila Hemd die Hand entgegen. „Selling Sin City“ lautet der Werbespruch von Jose Inchauriga, einem selbsternannten „Elite-Makler“.

Ähnlich wie Texas oder Florida zieht Nevada immer mehr Menschen aus Los Angeles, San Francisco und Co. an. Das sagenumwobene amerikanische Siedler-Motto „Go West“ hat sich umgekehrt. Die Einwohnerzahlen der drei Staaten steigen, Firmenansiedlungen und sprudelnde Steuereinnahmen inklusive. Die Abwanderung aus Kalifornien ist zwar nicht neu. 2021 und 2022 jedoch verließen laut Census Bureau quick 750.000 mehr Menschen Kalifornien als zuzogen. Oft ist vom „Exodus“ die Rede.

Für Kalifornien ist das ein doppeltes Problem. „Wer wegzieht, nimmt seine Steuergelder mit“, warnt Joel Kotkin, Ökonom von der kalifornischen Chapman University. Das reißt ein Loch in die Staatskasse, dabei beträgt das Haushaltsdefizit bereits jetzt gigantische 68 Milliarden Dollar. Diejenigen, die weggezogen sind, verdienten laut der Bundessteuerbehörde professional Kopf 137.000 Dollar: Fast doppelt so viel wie im landesweiten Schnitt.

Ein typischer Vorort von Las Vegas in der Wüste

Ein typischer Vorort von Las Vegas in der Wüste

Quelle: Getty Images

Aber warum zieht es so viele Menschen weg von den Palmenstränden des Pazifiks in die unwirtliche Gegend rund um Las Vegas? Dort, wo die Sommer über 40 Grad heiß und die Winter windig und kalt sind? Die Gründe sind pragmatisch: Deutlich weniger Steuern und Bürokratie sowie niedrigere Hauspreise locken geplagte Westküstler an. Auch die Drogen- und Obdachlosenkrise ist hier weniger präsent.

Arayik Sargsyan könnte einer der nächsten sein, den es nach Las Vegas zieht. Zwar hat er in Los Angeles in ein Haus investiert und wird die Immobilie über Jahre abzahlen müssen. Dennoch sucht der Familienvater nun einen Ausweg aus Kalifornien. Das liege nicht nur an den hohen Preisen. An der Schule seiner zwei Töchter käme es oft zu Gewalt. Waffen, aber vor allem Drogen seien ein Problem. In Nevada, das hofft Sargsyan zumindest, sei die Lage besser.

Ein weiterer Grund: Der Wüstenstaat lockt Hauskäufer mit günstigen Krediten und Förderangeboten. Kalifornien hingegen verlangt die höchste Grundsteuer. Auch der Durchschnittspreis für ein Haus liegt im Golden State laut der US-Maklerfirma „Zillow“ bei rund 800.000 Dollar. In Los Angeles wird wohl bald die Millionen-Grenze überschritten. Das ist mehr als das Doppelte des US-Durchschnitts.

Die urbane Katastrophe

Wer den Broadway in Los Angeles abläuft, kann sich nur noch schwer vorstellen, dass hier einst das kulturelle Herz der Westküste pulsierte. Nur eine Handvoll der dutzenden Theaterhäuser im Art-Deco-Stil beherbergt noch einen Kulturbetrieb. In einige Gebäude sind Modehändler eingezogen, andere sind dem Verfall preisgegeben; Fenster und Erdgeschoss mit Spanplatten verriegelt und mit Graffiti beschmiert.

Verbarrikadierte Hochzeitskapelle auf dem Broadway in Los Angeles

Verbarrikadierte Hochzeitskapelle auf dem Broadway in Los Angeles

Quelle: image alliance / newscom

Einst ein Aushängeschild in ganz Amerika, säumen die Gegend um den Broadway heute Hunderte zum Verwechseln ähnlich aussehende Schmuckläden, die meist von mexikanisch-stämmigen Männern betrieben werden und über die es heißt, viele widmeten sich der Geldwäsche oder anderen illegalen Nebentätigkeiten. Die meisten Angelinos meiden die verruchte Gegend. Sobald es dunkel wird, sind hier kaum noch Passanten unterwegs.

Viele der einstigen Prachtbauten in Los Angeles stehen leer oder beherbergen Schmuckläden

Viele der einstigen Prachtbauten in Los Angeles stehen leer oder beherbergen Schmuckläden

Quelle: Jan Klauth

Das conflict nicht immer so. Einst glaubte man in Downtown, die Probleme besiegt zu haben. Noch 2011 erschien bei WELT ein Bericht, wonach die Stadt durch Investitionen in die Polizeiarbeit die Kriminalität innerhalb von sechs Jahren um quick die Hälfte zurückdrängen konnte.

„Elend, Kriminalität und Verfall im Zentrum von Los Angeles sind Geschichte“, heißt es in dem Text überschwänglich. In der einstigen Gefahrenzone öffneten plötzlich hippe Cafés, die Kunstszene und das Nachtleben florierten. Eine Zeit lang schien das Ganze zu funktionieren. Dann kam das Fentanyl.

Das große Sterben

Amerikas Geschichte ist auch eine Geschichte der Drogen. Kein anderes Rauschmittel jedoch rafft die Bevölkerung derart dahin wie zuletzt Fentanyl. 2022 starben 123.000 Menschen an einer Überdosis. So viele wie nie zuvor. Die zwei großen Elendsviertel in San Francisco und Los Angeles – Tenderloin und Skid Row – existieren zwar schon seit Jahrzehnten. Mit repressiven Maßnahmen versuchte man lange, Obdachlosigkeit und Konsum auf wenige Straßenblocks einzugrenzen.

Doch spätestens seit den Corona-Lockdowns ist das Problem derart außer Kontrolle geraten, dass es das Stadtbild der beiden größten Städte Kaliforniens weit über die Ghettos hinaus prägt. Viele Süchtige und Obdachlose haben sich auf der Straße eingerichtet, halten Haustiere in Käfigen, haben kleine Küchen oder überdachte Sitzecken neben ihren Zelten aufgebaut.

Homelessness and Fentanyl crisis in San Francisco

Obdachlosigkeit und Drogenelend prägen sichtbar den Alltag in Kaliforniens Städten

Quelle: image alliance/Anadolu/Tayfun Coskun

Für andere wiederum – meist sind es Männer, meist dunkelhäutig – ist es ein Tod auf Raten. Mit offenen Wunden und in ihren Exkrementen liegen sie in den verdreckten Gassen und vegetieren vor sich hin. Das Elend prägt den Alltag an der Westküste – und ist zu einem wichtigen Wahlkampfthema geworden.

Laut Zensusangaben leben derzeit allein im Los Angeles County rund 75.500 Obdachlose. Bürgermeisterin Katrin Bass, die erste Frau im Amt, hat im Dezember 2022 den „Notstand“ ausgerufen. Inspiriert haben dürfte sie London Breed, Bürgermeisterin von San Francisco, die das ein Jahr davor tat.

Vize-Präsidentin Kamala Harris gratuliert Karen Bass zur Wahl als Bürgermeisterin von Los Angeles

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Quelle: Getty Images/David McNew

Große Wirkung hat die Aktion der beiden Demokratinnen bisher nicht. Das amerikanische Ministerium für Wohnungsbau beziffert die Zahl der Obdachlosen in Kalifornien auf 181.399: ein Plus von 40 Prozent in fünf Jahre.

Zwar wurden vielen Obdachlosen Unterkünfte in Hotels angeboten, das Problem löst diese teure Maßnahme aber nicht. Einerseits verschärft die „housing disaster“ das Problem weiter, andererseits kommen konstant neue Drogenabhängige an die Westküste, die früher oder später auf der Straße landen. In San Francisco beispielsweise stammen 30 Prozent der Obdachlosen nicht aus der Stadt; weitere 17 Prozent haben weniger als ein Jahr dort gelebt.

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Der Zuzug ist kein Zufall. Kalifornien fährt eine vergleichsweise laxe Drogenpolitik. Konsumenten und Dealer werden kaum vom Gesetz belangt, fühlen sich hier sicherer als andernorts. Und wer einen Diebstahl unter 950 Dollar Warenwert begeht, macht sich seit 2014 nur noch einer Ordnungswidrigkeit schuldig. Der Hintergrund: Die Gefängnisse sind überfüllt. Die USA haben die weltweit höchste Gefangenenquote, die Politik wollte die Zahlen runterbringen.

Auch das bringt viele in Kalifornien gegen die demokratische Regierung von Gouverneur Gavin Newsom auf. Das Sicherheitsgefühl hat sich drastisch verschlechtert, wie zum Beispiel die Zensusumfrage in San Francisco zeigt. Die Stadt gilt inzwischen als Zentrum der Krise. Dort verkaufen Nacht für Nacht Drogenabhängige ihre Beute auf dem „Fentanyl-Bazar“: Ware, die gestohlen wurde, ohne sich strafbar zu machen.

Ein Republikaner will Kalifornien erobern

Alex Balekian ist auf unsicherem Territorium unterwegs. Findet er selbst jedenfalls. WELT trifft den republikanischen Politiker im Trendviertel Los Feliz, eine linksliberale Hochburg in Los Angeles. Balekian, schwarze Haare, Dreitagebart und blaues Poloshirt, läuft an einer Buchhandlung vorbei, im Schaufenster hängt neben einer Regenbogenflagge ein „Defund the Police“-Plakat.

„Wollen Sie auch für mehr Schwulen-Rechte eintreten?“, fragt eine junge Frau mit grün gefärbten Haaren, die vor dem Laden Unterschriften sammelt. Die Reaktion des Kongress-Kandidaten macht die Aktivistin kurz sprachlos: Er brauche nicht noch mehr Schwulen-Rechte, sagt Balekian mit Nachdruck. Schließlich sei er schon mit einem Mann verheiratet.

Balekian ist kein typischer Republikaner. Wurzeln in Armenien, Arzt und offen homosexuell. „Ich bin ein entrechteter Republikaner“, sagt der 45-Jährige. Was er damit meint: Im Gegensatz zur Parteilinie ist er beispielsweise für die Freiheit zur Abtreibung – solange das ohne verpflichtende Beratung ablaufe und die Regierung sich heraushalte. „Libertär“ nennt er das, um sich von den Demokraten abzugrenzen, die schuld am „Niedergang Kaliforniens“ seien.

Der Republikaner Alex Balekian will den Frust der Bürger in seinem Wahlkreis nutzen

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Quelle: Alex Balekian

In seinem Wahlkreis konnte Balekian den Frust vieler Wähler für sich nutzen. Seine Chancen, im November in den Kongress einzuziehen, stehen nicht schlecht. Schnell dreht sich das Gespräch um die Themen, die auch Donald Trump im Wahlkampf adressiert. Sicherheit, Migration und Drogenpolitik. Kein Wunder: Wenn der Präsidentschaftskandidat von „failed cities“ spricht, meint er oft Kalifornien.

Dass sich im Herbst die Mehrheit der Wähler hier für Trump entscheidet, wäre ein Novum in Kalifornien, das bisher meist klar demokratisch wählte. Doch der Staat, in dem Trump 2021 immerhin 34 Prozent holte, folgt dem Bundestrend: Der mehrfach angeklagte Ex-Präsident mausert sich zum Favoriten im Wahlkampf.

Ob Balekians Partei in der Lage wären, den Exodus zu stoppen, ist eine andere Frage. Aber seine Logik verfängt: Für die desolaten Zustände sei die demokratische Politik der letzten Jahre verantwortlich. Und die Schuldzuweisung ist für Balekian einfach: Der letzte Republikaner, der im Golden State etwas zu sagen hatte, hieß Arnold Schwarzenegger.

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Während des Spaziergangs sieht Balekian sich immer wieder um. „Ich würde mich hier sicherer fühlen, hätte ich meine Pistole bei mir.“ Noch aber fehle der Schein, der ihn dazu berechtigt, Waffen auch in der Öffentlichkeit zu tragen. Generell gibt Balekian den Hardliner: „Die USA werden von unqualifizierten Migranten überrannt, die unlawful in dieses Land eingereist sind“. Präsident Joe Biden gebe lieber Milliarden für die Flüchtlinge anstatt für die eigenen Bürger aus, behauptet er.

Wie Trump ist auch Balekian für einen Ausbau des Grenzzauns zu Mexiko. Es ist ein verbreitetes Phänomen in den USA: Viele Migranten in zweiter Generation unterstützen die Republikaner, fordern selbst strengere Einwanderungsregeln. Balekian sieht in der Migrationspolitik einen Grund für den Exodus. „Die Menschen in Kalifornien müssen die höchsten Steuern zahlen. Sie werden wütend, wenn sie sehen, wie ihr hart erarbeitetes Geld für Einwanderer verschwendet wird oder an Diktatoren wie Erdogan in der Türkei geht.“

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Auch, dass Firmen Kalifornien den Rücken kehrten, sei die Folge fehlgeleiteter Wirtschaftspolitik, meint Balekian und nennt als Beispiel Nestlé: Das Unternehmen zog 2017 aus Balekians Wahlkreis nach Virginia, 2000 Beschäftigte verloren ihren Job. Genau in diesem Moment läuft eine Passantin an Balekian vorbei und sagt mit Wehmut in der Stimme: „Ich habe für Nestlé gearbeitet – 21 Jahre lang.“

Erstaunt über diesen Zufall und quick euphorisch, in Los Feliz eine mögliche Fürsprecherin gefunden zu haben, wird der Politiker zum ersten Mal im Gespräch laut: „Sehen Sie! Das haben die Demokraten mit Kalifornien angerichtet“, ruft er mit den Händen fuchtelnd, bevor er sich verabschiedet und in seinen weißen Jaguar steigt. Das Nummernschild des Wagens ist mit einem Union Jack umrandet. Balekians Ehemann ist aus Großbritannien eingewandert.

Der Autor Jan Klauth hat im Frühjahr 2024 für WELT in Los Angeles gearbeitet. Die Recherchen für diesen Beitrag sind während dieser Zeit entstanden.

https://www.welt.de/wirtschaft/article251632828/USA-Abwanderung-Elend-Drogen-Erschreckender-Abstieg-Kaliforniens.html