Jhumpa Lahiri and her Roman tales | EUROtoday

Get real time updates directly on you device, subscribe now.

Drinnen ist der Boden in graurötlichem Marmor gefliest, wirken alle Gegenstände ein bisschen verblichen, bis auf das knallige Giallorossi-Trikot an der Wand, signiert, gerahmt und hinter Glas, von Daniele de Rossi, früher Starspieler, inzwischen Trainer bei AS Rom.

Den Pulitzer-Preis gab es sofort

In einem Regal steht ein Foto von Jhumpa Lahiri aus ihrer vorrömischen Zeit. Es sieht aus wie ein Profi-Por­trät, das Porträt eines Profis vor und hinter der Kamera, aufgenommen womöglich für einen Buchumschlag oder anlässlich der Nominierung für einen Literaturpreis, den man Lahiri verliehen hat. Davon gab es viele und viele der ganz großen. Ihren größten, den Pulitzer, gab es sofort: für ihr Debüt „Melancholie der Ankunft“, einen Kurzgeschichten-Band von 1999. In einem anderen Regal lehnen einige Ausgaben der Bücher, die Lahiri in ihrer römischen Zeit geschrieben hat, auf Italienisch.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Ein knappes Jahrzehnt ist es her, dass sie aufhörte, ihre literarischen Texte auf Englisch zu schreiben, der Sprache, mit der sie in den USA zur verlässlichen Bestsellerautorin geworden ist und für eine Weile zu einem Literaturweltstar. Sie entschied sich stattdessen für eine Sprache, die sie erst in den Jahren zuvor wirklich gelernt hatte, ohne Grund, aber mit einer Hingabe, die sie selbst einmal obsessiv nannte. Zu der gehörte auch, dass sie seit 2012 nicht mehr nur in New York wohnt, sondern auch in Rom.

Lahiri bietet mir einen Platz auf einer bequem-heruntergekommenen Ledercouch an, stellt ein Mini-Tablett mit Espresso und Butterkeksen auf den Couchtisch und setzt sich auf einen samtbezogenen Sessel mit Holzbeinen, der einen zu einer aufrechten Haltung zwingt. Sie weist in den Raum, auf die massivdunklen Möbel mit Gründerzeit-Optik, zwischen denen Bauhaus-Signature-Stücke stehen, als seien sie versehentlich dort gelandet. „Als wir diese Wohnung kauften, waren die älteren Möbel schon drin. Wir haben dann nach und nach Neueres dazu besorgt.“

Eine besondere Rückkehr

Am nächsten Tag fliegen ihr Mann und sie nach New York, wo sie auch eine Wohnung haben und ihre Kinder, die in Rom zur Schule gegangen sind, inzwischen beide wieder leben. Ihr Sohn hat gerade sein Studium an der Columbia-Universität beendet, die Tochter ihres kürzlich angefangen, in Barnard, Columbias Partner-College für Frauen. An dem hat in den Achtzigerjahren auch Lahiri studiert, englische Literaturwissenschaft – das Fach, für das sie letztes Jahr Professorin in Barnard wurde. Das Herbstsemester 2023 versprach eine besondere Rückkehr: auf ihren ersten Campus, der das nun auch für ihre Tochter sein sollte.

Doch dieser Campus geriet bald nach Semesteranfang außer sich. Die nebeneinandergelegenen Gelände von Columbia und Barnard wurden zum Schauplatz der ersten, bitter umstrittenen „Campus-Proteste“ von Studierenden gegen Israels Krieg in Gaza und der ersten, bitter umstrittenen Maßnahmen gegen solche Proteste vonseiten der Universitätsleitungen. In Columbia und Barnard wurde vorgemacht, was sich mittlerweile an vielen, auch deutschen Unis abspielt.

„Atmosphäre der Repression“

Seit Oktober, so Lahiri, sei jeder Tag im College bestimmt gewesen von Protesten und Gegenprotesten, Polizeihubschraubern, Ausweiskontrollen, Fernsehteams. Der Ausnahmezustand hielt nach Semesterende an. Lahiri, die nur im Herbst in New York lehrt, und ihr Mann waren da wieder in Rom, doch die Lage an Columbia und Barnard betraf sie weiterhin, nicht nur, weil ihre Kinder dort studierten. Als im April Studentinnen, die sich an der Besetzung eines Teils des Columbia-Campus beteiligt hatten, zwangsexmatrikuliert und von der Polizei abgeführt wurden, forderten Lahiri und eine Kollegin in einem offenen Brief an den Uni-Präsidenten die Aufhebung aller Disziplinarmaßnahmen gegen die Studentinnen, da diese friedlich demonstriert hätten. In Barnard herrsche, heißt es im Brief, eine „Atmosphäre der Repression“, die sie ihr College nicht wiedererkennen lasse.

Lahiri richtet sich im Sessel auf und spricht aus, was überdeutlich ist: „Wir sind sehr angespannt.“ In der vergangenen Nacht, in New York ist die eigentlich noch gar nicht vorbei, eskalierte die Lage auf dem Columbia-Campus erneut, ihr Mann und sie seien mit dieser Nachricht aufgewacht. Demonstranten hatten ein Gebäude, Hamilton Hall, besetzt, Polizisten räumten es, nahmen mehr als 100 Personen in Gewahrsam. Seit sich 1968 Studierende zum ersten Mal dort verbarrikadierten, während ihres Widerstands gegen den Vietnamkrieg, gilt die Hamilton Hall als eine Symbolstätte studentischer Protestkultur.

Ein demonstrierender Student vor der Hamilton Hall der Columbia-Universität am 30. April 2024
A student protesting in front of Columbia University's Hamilton Hall on April 30, 2024AP

Für Lahiri ist sie das jetzt wieder. Und auch in ihrer Biographie war Hamilton Hall ein historischer Ort. Hier habe sie als Studentin in Seminaren gesessen, habe Shakespeare gelesen und Ovid. Lahiris Sätze klingen erschüttert und so, als hätte die New Yorker Polizei auch ihre persönliche Geschichte mit Kabelbindern fixiert und abführen wollen. Oder jedenfalls das, worauf diese Geschichte setzt: die Verwandlungen von Sprache in Literatur und in eine wenigstens provisorische Identität und die „Verwandlungen“ von Ovid, Maximalgedicht voll von provisorischen Identitäten, das Lahiri seit vier Jahren gemeinsam mit einer Latinistin neu ins Englische übersetzt.

Im Herbst gab Lahiri ihr erstes Seminar in Barnard. Es ging um „Exophonie“, um literarisches Schreiben, für das Autoren eine andere Sprache verwenden als ihre Muttersprache. Um ein Schreiben wie das von Lahiri also, die Literatur ausschließlich und sogar in zwei Sprachen verfasst hat, die beide nicht ihre Muttersprache sind. Allerdings sei, so Lahiri, ja überhaupt nicht selbstverständlich, was Muttersprache eigentlich meine. „Gibt es so etwas überhaupt? Und wenn ja, haben nicht Menschen ganz verschiedene Beziehungen dazu?“, fragt sie.

Zugleich sei dies genau die Frage, mit der sie sich seit zwölf Jahren auseinandersetze, als Lehrende, Autorin und Übersetzerin, auch ihrer eigenen Texte. Doch schon Lahiris frühere Prosa legt nahe, dass sie die Fragwürdigkeit und Prekarität dessen, was man als Muttersprache bezeichnet, in und mit ihrem Schreiben immer schon umkreist hat, selbst wenn sie dies nicht explizit zu ihrem Thema erklärt hat. Und ihre eigene Lebensgeschichte lässt erahnen, dass diese Fragwürdigkeit und Prekarität Lahiri selbst immer schon umkreist haben.

Als hätte meine Muttersprache krank im Bett gelegen

Ihre Eltern sprachen Bengali mit ihr. Sie waren aus Kolkata im Westen Indiens nach London ausgewandert, wo Lahiri 1967 geboren wurde. Als sie drei Jahre alt war, zog die Familie nach Rhode Island an der Ostküste der USA. Bis sie, vierjährig, begann, Englisch zu lernen, war Bengali Lahiris einzige Sprache, eine von ihr – bis heute – ausschließlich gesprochene, in der sie nie geschrieben hat (nicht nur keine Literatur). „Buchstäblich ist meine Muttersprache Bengali, es war die Sprache meiner Mutter und meine erste. Aber sie musste bald zur Seite treten, damit Englisch, eine Art Stiefmutter, hereinkommen und mein Leben verwalten konnte, meine Ausbildung vor allem. Als hätte meine Muttersprache krank im Bett gelegen und das nicht gekonnt. Emotional konnte sie sich um mich kümmern, intellektuell nicht.“

Dennoch war Bengali lange die ihr Leben dominierende Sprache und Englisch ein notwendiges Instrument, für die Schule, das Studium, einige Freundschaften. „Meinen Eltern, die in einem Indien unter britischer Herrschaft geboren sind, bot Englisch Zugang zur Machtstruktur in ihrem Herkunftsland, erlaubte ihnen, dieses Land zu verlassen, anderswo zu überleben, doch es blieb eine Fremdsprache für sie. Deshalb blieb es das auch für mich, obwohl ich es sprach wie eine sogenannte Muttersprachlerin.“ Erst nachdem sie auf Englisch promoviert, Liebesbeziehungen geführt, sich eine eigene Existenz außerhalb ihres Elternhauses aufgebaut hatte, vertiefte sich ihr Verhältnis zum Englischen. Da war Lahiri um die 30, wenige Jahre später erschien ihr englischsprachiges Debüt.

Englisch war eine Art Stiefmutter

Ihre ersten Kurzgeschichten handeln, wie die meisten ihrer folgenden, auf Englisch geschriebenen Erzählungen und Romane, von einer Welt, die Lahiri vertraut war und der Mehrzahl ihrer amerikanischen Leser in den 2000er-Jahren sicher nicht: die der aus Indien zugewanderten, vor allem bengalischsprachigen Diaspora in den USA. Die wuchs in den Siebziger- und Achtzigerjahren stark an, blieb aber von der Mehrheitsgesellschaft oft unbemerkt. Ein Großteil indischer Migranten kam nach Amerika, um dort zu studieren, viele arbeiteten danach im medizinischen Umfeld oder in Ingenieurberufen. Besonders in ihren Kurzgeschichten erzählt Lahiri davon, wie sich die Protagonisten in Vororten oder in der Nähe eines Uni-Campus eigene Räume erschließen, die jedoch klar begrenzt sind durch die Kultur und die Regeln des Landes, in das sie oder ihre Eltern ihr Leben verlegt haben. Lahiri schildert Spannungen, die sich innerhalb dieser Grenzen ergeben.

„Es hat mich beim Unterrichten in Barnard sehr inspiriert, dass Fragen von Sprache, Herkunft und Identität viele junge Leute dort umtreiben.“ Zugleich steht jüngeren Menschen mit migrantischem Hintergrund und uneindeutigen Zugehörigkeiten inzwischen für den Umgang mit diesen Fragen ein ganz anderes Vokabular zur Verfügung, eines, in dem Herkunft und Identität, Ethnizität und Diversität, zu Begriffen geworden sind in einem viel bewussteren und selbstbewussteren Diskurs.

Kann Lahiri frühere, früher gar nicht benennbare Erfahrungen damit heute besser erfassen? „Ich empfinde das neue Vokabular als ermächtigend. Angeregt von postkolonialen Ansätzen, denke ich über vieles nach, was ich in der Vergangenheit gar nicht infrage gestellt habe, weil ich so damit beschäftigt war, mich, besonders sprachlich, anzupassen, Erwartungen zu erfüllen. Und mir ist bewusst geworden, was auch diese Assimilation in einem anrichten kann.“

Postkoloniale Rebellion

Ihre Entscheidung, „sich vom Englischen zu distanzieren“, Italienisch zu lernen und dabei „das eigene Verhältnis zu Sprache überhaupt, als Person und Autorin, umzugestalten“, sei eine Folge davon, dass sie erst jetzt wirklich begriffen habe, wie sehr ihr Schreiben auf Englisch davon geprägt war und ist, dass dies die Kolonialsprache ihrer Eltern war. „Man kann meinen Move raus aus dem Englischen als eine Art postkoloniale Rebellion interpretieren.“

Jhumpa Lahiri: „Das Wiedersehen. Römische ­Geschichten“. Übersetzt von Julika Brandestini. Rowohlt, 256 Seiten, 24 Euro.
Jhumpa Lahiri: “The Reunion. Roman Stories”. Translated by Julika Brandestini. Rowohlt, 256 pages, 24 euros.Rowohlt

Manche hätten ihr vorgeworfen, sich mit dem Italienischen bloß eine andere europäische Sprache ausgesucht zu haben. Wieso schreibe sie nicht in „ihrer“ Sprache, auf Bengali? Hier hebt sich die Stimme von Lahiri, die sonst ruhig, reserviert fast, gesprochen hat. Für sie seien beide Sprachen, Englisch und Bengali, mit nie erfüllbaren Erwartungen verknüpft gewesen, beide waren nie ganz „ihre“, so wie sie sich weder in den USA noch in Indien je zugehörig gefühlt habe. Italienisch habe sie nicht geerbt, und sie habe es nicht lernen müssen. „Alles davon“, sagt Lahiri – und meint damit das intensive Italienisch-Studium, das sie vor 15 Jahren begann, ihren Umzug nach Rom und ihr Schreiben auf Italienisch – „war vollkommen unnötig“. Und dass ihre Wahl ausgerechnet auf Italienisch fiel, lasse sich rational nicht erklären. „Es erschien mir wie die Sprache, die ich brauchte, und sie war es.“

In den literarischen und essayistischen Texten, die Lahiri auf Italienisch verfasst hat, kommen nicht nur, anders als in ihrer englischsprachigen Literatur, häufig Ich-Erzähler vor. Es sei ihr erst im Italienischen möglich gewesen, auch autobiographisch „ich“ zu sagen. „Italienisch ist für mich eine Sprache größerer Intimität“, sagt Lahiri. Vielleicht, weil sie es selbst in sich aufgebaut hat, ohne Impuls von außen.

„Ich“-Erzähler gibt es auch in ihrem neuesten Buch „Das Wiedersehen“, eine Sammlung von Kurzgeschichten, die 2022 im italienischen Original unter dem treffenden Titel „Römische Geschichten“ erschien. Die meisten Kurzgeschichten darin spielen in Rom, allein die Stadt hat einen Namen, während alle Figuren im Buch – und es sind viele – namenlos bleiben. Die Geschichten spielen in einem Rom, das keine touristischen Wiedererkennungsreflexe provoziert, nicht nur, weil selten kenntlich gemacht, eher sogar verwischt wird, wo genau die Protagonisten leben oder sich gerade aufhalten. Die Geschichten handeln von Rombewohnern, nicht von Rombesuchern.

Die Figuren darin arbeiten, schleppen Einkäufe nach Hause, verabreden sich mit alten Freundinnen in Trattorien, die sie noch aus ihrer Kindheit kennen. Doch längst nicht alle sind hier geboren, viele sind zugewandert, aus Herkunftsländern, die Lahiri ebenfalls im Unscharfen belässt. Doch unmissverständlich sind das Misstrauen und die Xenophobie, der mal unterschwellige und mal brachial-gewaltsame Rassismus, die ihnen entgegenschlagen. Auch „Das Wiedersehen“ ist ein Buch über verkomplizierte Zugehörigkeiten und die Frage, was einen Einheimischen ausmacht. Und, in weiten Teilen, ein Buch über die Stadt, in der Lahiri mittlerweile schon seit zwölf Jahren lebt.

Wir gehen zusammen aus der Wohnung. Sie muss noch zur Apotheke und ein paar Kleinigkeiten erledigen. Im Vorbeigehen wechselt sie einige Worte mit dem Besitzer der Bar in der Querstraße, dann laufen wir in eine Freundin von ihr hinein. Jhumpa Lahiri ist eine Rombewohnerin.

Jhumpa Lahiri: „Das Wiedersehen. Römische ­Geschichten“. Übersetzt von Julika Brandestini. Rowohlt, 256 Seiten, 24 Euro.

https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/jhumpa-lahiri-und-ihre-roemischen-geschichten-19740951.html