Wer tut sich das noch an? | EUROtoday

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Ein Interview mit Matthias Becker ist nicht nur ein Gespräch, es ist ein Schauspiel. Becker, der Bürgermeister von Ober-Olm südlich von Mainz, gibt sich selbst die Stichwörter, fegt durch sein Büro und bedient sich der Requisiten, die man in der Amtsstube eines Bürgermeisters so findet: Ordner voller Akten, Mails auf dem Bildschirm, Karten an der Wand. Die Aufführung läuft seit einer halben Stunde, Becker hat viel gelacht und kurz geweint, es ging um unverschämte Bürger, behäbige Bürokraten und eine Ampel, auf die Ober-Olm fünfzehn Jahre lang gewartet hat, da kommt es zu einer überraschenden Wendung. Womöglich ist Becker aufgefallen, dass das Ganze bisher arg negativ war und er doch eigentlich werben wollte für die Kommunalpolitik. Jedenfalls springt er unvermittelt aus seinem Bürostuhl und sagt, er hole jetzt „das demokratischste Element, das es gibt“.

Becker geht zum Tresor an der Wand, kramt seinen Amtsstempel heraus und baut sich damit mitten in Raum auf. „Den darf nur einer führen. Nicht ich, Matthias Becker, sondern der gewählte Ortsbürgermeister der Gemeinde Ober-Olm. Und der muss dafür nichts können, er muss nur achtzehn sein, und was er mit diesem Stempel bescheinigt, kann niemand auf der Welt anzweifeln“, spricht Becker, während er mit dem Stempel herumfuchtelt. „Jeder kann Verantwortung übernehmen, jeder, der sich für die Demokratie einsetzen will, kann das auch tun.“ Irgendwann drückt Becker den Stempel auf ein leeres Blatt Papier, das auf seinem Schreibtisch liegt: ein Schild mit Runen und einem sechsspeichigen Rad darauf, das Wappen von Ober-Olm. Becker sagt: „Das ist so cool.“

„Das demokratischste Element, das es gibt“: der Amtsstempel des Ortsbürgermeisters von Ober-Olm
„Das demokratischste Element, das es gibt“: der Amtsstempel des Ortsbürgermeisters von Ober-OlmLucas Bäuml

So cool wie Becker findet es aber nicht jeder, einfach mitzumachen in der weitverästelten deutschen Demokratie, und darum geht es gerade wieder, kurz vor den Kommunalwahlen. Thüringen machte den Anfang, am zweiten Juniwochenende wählen dann Bürger in acht Bundesländern Bürgermeister, Gemeinderäte und Kreistage. Die Stimmung ist angespannt. Berichte über Politiker, die angegriffen werden, häufen sich. Die AfD wird sich vor allem in der ostdeutschen Fläche weiter ausbreiten und mit ihr ein giftiger Ton. Das macht es für die Parteien vielerorts noch schwieriger, Kandidaten für ein Amt zu finden, mit dem sich nicht mal Geld verdienen lässt. Wer tut sich das noch an? Und was steht auf dem Spiel, wenn die Basis der Demokratie bröckelt?

In mehr als 520 Gemeinden tritt niemand an

Die Viereinhalbtausend-Einwohner-Gemeinde Ober-Olm mit ihren verwinkelten Gassen ist ein guter Ausgangspunkt, um dieser Frage nachzugehen. In Rheinland-Pfalz werden Ortsgemeinden dieser Größe von ehrenamtlichen Ortsbürgermeistern geführt, über denen ein hauptamtlicher Bürgermeister einer Verbandsgemeinde steht. Grob gesagt, liegt die Verwaltungshoheit bei den Verbandsgemeinden, während sich die Ortsgemeinden um die politischen Inhalte kümmern. Die ehrenamtlichen Posten will häufig aber keiner übernehmen. Vor fünf Jahren fand sich in 467 von 2259 Ortsgemeinden kein Kandidat, dieses Jahr tritt in mehr als 520 Gemeinden niemand an. In der ersten Ratssitzung findet sich dann zwar meist einer, der doch noch die Hand hebt. Zur Not muss der zuständige Kreis aber einen Verwalter bestellen.

Nahe an Mainz, aber mit Blick ins Grüne: Ober-Olm
Nahe an Mainz, aber mit Blick ins Grüne: Ober-OlmLucas Bäuml

Unter denen, die das Amt antreten, ist die Unzufriedenheit groß. Als sich der SWR im vergangenen Herbst unter den Ortsbürgermeistern umhörte, überlegten viele, hinzuwerfen. Ein paar Monate später gaben die meisten dann allerdings an, sie würden doch wieder antreten. Einer, der quick hingeworfen hätte, ist Matthias Becker, bald sechzig Jahre alt, Sohn des ersten Bürgermeisters nach dem Krieg und seit 1989 für die CDU im Ober-Olmer Gemeinderat. Als sein Vorgänger vor sechs Jahren mitten in der Wahlperiode in die Verbandsgemeinde wechselte, trat Becker erstmals als Bürgermeisterkandidat an. Seitdem hat er den Job.

„Wenn man etwas bewegen will, macht man das zwanzig bis dreißig Stunden die Woche“, sagt Becker. Der Sitzungskalender hat 35 Termine im Jahr, die auch vor- und nachbereitet werden müssen. Dazu kommen achtzigste Geburtstage, neunzigste Geburtstage, Goldene Hochzeiten, die 45 kommunalen Mitarbeiter, mit denen er jedes Jahr ein Mitarbeitergespräch führen muss, die durchschnittlich 35 Mails am Tag, die einer Antwort bedürfen, den „Scheißdreck“ (Becker), der so reinkommt, schon abgezogen. Dass er das alles im Ehrenamt macht, stört Becker nicht, so sei das halt geregelt in Rheinland-Pfalz. Die 1500 Euro Aufwandsentschädigung im Monat sind ihm eher zu viel. Sein Geld hat er mit einem eigenen Unternehmen verdient, das inzwischen weitgehend seine Kinder führen; seit einigen Jahren ist er auch noch Geschäftsführer der Stadtmarketing GmbH in Ingelheim. Die Dinge, wegen denen er „aus der Bux“ springen könnte oder man ihn „am Ärmel lecken“ solle, wie er in weichem Rheinhessisch formuliert, sind andere.

Zum Beispiel die Bürokratie. „Wir leben in einer Verwaltungsdiktatur“, sagt Becker und sprudelt vor Beispielen. Die Sache mit der Ampel etwa. Sie steht außerhalb des Ortes, an der großen Straße, die zur Autobahn führt. „Wir haben fünfzehn Jahre lang auf diese Ampel gewartet, es mussten erst drei Leute sterben, Fahrradfahrer, die umgenietet wurden“, sagt Becker, und dann kommen ihm die Tränen. „Ich kenne die Leute ja, ich stehe da am Grab.“ Becker erzählt es so: Die Regierung in Mainz habe für das Stück Land, auf dem die Ampel errichtet werden sollte, lange nicht den Preis zahlen wollen, den der Eigentümer dafür verlangte, bis irgendwann die Gemeinde Ober-Olm die Fläche einfach gekauft und dem Land zur Verfügung gestellt habe. „Dafür habe ich eine Rüge von der Kommunalaufsicht bekommen“, sagt Becker. „Aber das ist mir wumpe.“

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.


Und dann sind da noch manche Bürger. Die, die ihn anrufen, wenn sie eine zerbrochene Glasflasche auf dem Spielplatz finden, anstatt die Scherben einfach selbst in den Mülleimer zu werfen. Die ihm pampige Mails schreiben, wenn vor ihrem Haus die Straße aufgegraben wird, obwohl das doch im Amtsblatt stand, das sogar in Blindenschrift übersetzt wird. Die ihm Morddrohungen in den Briefkasten am Rathaus werfen, wenn der Gemeinderat die Hundesteuer erhöht. Für Becker führt von solchen Anekdoten eine direkte Linie zur Frage, warum sich die Leute nicht mehr engagieren, schließlich werden auch in Ober-Olm die Parteilisten kürzer. Er spricht von einem „Ich-zahl-doch-Steuern-Anspruch“ und sagt, gedanklich schon zu den rechten Umtrieben in der Gesellschaft weitergezogen: „Da ist eine Bequemlichkeit entstanden, als wäre das alles selbstverständlich, aber genauso selbstverständlich kann das morgen auch wieder vorbei sein.“

Kaum aussagekräftige Zahlen

Wie groß das Problem ist, über Rheinland-Pfalz hinaus, ist nicht leicht zu sagen. Beim Städte- und Gemeindebund heißt es, vor allem in ländlichen Gegenden, wo die Demokratie besonders auf Ehrenamtliche angewiesen sei, gehe das Engagement zurück, aber es sei schwer, aussagekräftige Zahlen zu erheben. Fragt man bei Wahlleitern, Statistikämtern und Parteien nach, ergibt sich kein einheitliches Bild. In Brandenburg etwa, wo es im Gegensatz zu vielen anderen Ländern schon Daten für die anstehende Wahl gibt, stieg die Zahl der Kandidaten zuletzt sogar.

Die SPD in Sachsen meldet für dieses Jahr stabile Zahlen – was aber nicht heißt, dass alles zum Besten steht. Ein Mittwochnachmittag in der Altstadt von Plauen, der SPD-Ortsverein hat einen Infostand aufgebaut. Sechs Genossen verteilen Flyer und Tüten mit Taschentüchern und Luftballons. Im Nieselregen huschen aber nur wenige Wähler über den Platz zwischen McDonald’s und Modehaus Wöhrl. Auch Hennig Homann ist heute dabei, der sächsische SPD-Vorsitzende. Dass die Kandidatenzahl in Sachsen stabil geblieben ist, wertet Homann als Erfolg. Für den hat die Partei allerdings viel Aufwand betrieben. Schon vor zwei Jahren begannen sie in der Zentrale damit, auf Ortsvereine zuzugehen und darüber zu sprechen, wie gezielt Parteilose für die Listen gewonnen werden können.

Wahlkampf in Plauen: SPD-Ortsvorsitzender Christian Hermann und Kandidat Sebastian Loik
Wahlkampf in Plauen: SPD-Ortsvorsitzender Christian Hermann und Kandidat Sebastian LoikRobert Gommlich

Wie schwer es in Plauen ist, Leute zu finden, berichtet am Wahlstand Christian Hermann, ein Informatiker von Anfang vierzig. Hermann ist Stadtrat und Ko-Vorsitzender des SPD-Ortsvereins. Den Vorsitz hat er aber nicht übernommen, weil er auf eine Karriere in der Partei aus ist: „Irgendwer muss ja dafür sorgen, dass in der Stadt, in der ich ein Haus gebaut habe, die Zukunft nicht dunkel wird.“ Vor einigen Monaten erstellten die Genossen in Plauen eine Liste mit Leuten, die sie sich in Stadtrat und Kreistag vorstellen konnten. Hundert Namen standen darauf. Es struggle die Zeit, als im ganzen Land Bauern demonstrierten und Wirtschaftsminister Robert Habeck auf einer Fähre festgesetzt wurde, „nicht das beste Umfeld“, wie Hermann sagt. Auf den Wahllisten stehen nun sechzehn Namen. Das sind weniger als vor fünf Jahren, aber immerhin sind zwei neue darunter.

Einer davon ist Sebastian Loik, 36 Jahre alt und erst seit zwei Jahren in der SPD. Bis er bereit struggle, für ein Amt zu kandidieren, brauchte es ein wenig Zeit und Christian Hermann. Hermann, ein guter Freund, lud ihn vor einigen Jahren erst zum SPD-Stammtisch ein und akquirierte ihn dann als Sachkundigen Bürger im Bildungs- und Sozialausschuss. Loik überlegte lange, weil er ahnte, dass das viel Zeit kosten wird, aber seine Kinder waren schon etwas älter, und er hatte wieder Kapazitäten frei. Im Ausschuss beriet Loik, der Soziale Arbeit studiert hat, die Stadträte, wenn es etwa um die Lage am „Tunnel“ ging, der zentralen Straßenbahn-Haltestelle, wo die Pro­blemfälle herumlungern. Irgendwann reichte ihm das nicht mehr: „Ich hatte Rederecht, durfte Fragen stellen, aber im entscheidenden Moment durfte ich nicht die Hand heben.“

Ein Grund für sein Engagement ist die AfD

Zwei Gründe haben Loik bewogen, in die Politik zu gehen. Der eine hat mit seiner Arbeit zu tun. Als rechtlicher Betreuer hilft er Menschen, die ihr Leben nicht geregelt kriegen, oft weil sie psychisch krank sind oder suchtkrank oder beides. Er wisse, wie schwer es für viele Gruppen sei, in der Gesellschaft Gehör zu finden. Der andere Grund ist die AfD. „Ich möchte nicht, dass meine Kinder in einer vergifteten Gesellschaft aufwachsen“, sagt Loik. „Ich möchte, dass sich das wieder umkehrt, und das fängt nun mal im Kommunalen an.“ Von Genossen, die schon länger dabei sind, weiß Loik, dass der Straßenwahlkampf rauer geworden ist, nicht erst, seit der sächsische SPD-Politiker Matthias Ecke krankenhausreif geprügelt wurde. Selbst erlebt hat Loik es aber noch nicht, heute ist er zum ersten Mal dabei.

Bei seinem ersten Einsatz auf der Straße erfährt Sebastian Loik die Ablehnung, von der er schon viel gehört hat.
Bei seinem ersten Einsatz auf der Straße erfährt Sebastian Loik die Ablehnung, von der er schon viel gehört hat.Robert Gommlich

Als Loik am Infostand ankommt, pöbelt ein Mann im Vorbeigehen: „Gerhard-Schröder-Partei – lebt immer noch, die Ratte.“ Ein anderer winkt im Vorbeigehen ab: „Ich wähle eh die AfD.“ Dann wird Loik erst mal von einer stadtbekannten Trinkerin in Beschlag genommen, die Plüschtiere in einem Leiterwagen spazieren fährt und am Wahlstand ein paar Zigaretten raucht. Mit seinem Lockenkopf und dem freundlichen Lächeln hat Loik eine einnehmende Art. Aber wenn er die Leute fragt, ob er ihnen etwas mitgeben dürfe, sagen manche nicht „nein, danke“, sondern: „Dürfen Sie nicht!“ Irgendwann stellt Loik fest: „Diese Ablehnung, das ist schon noch mal was anderes, wenn man das wirklich erfährt.“

Ein Mann aus dem Umland, um die zwanzig, lässt sich auf ein Gespräch ein, ist blöderweise aber in der CDU. Loik fragt ihn trotzdem, ob es Themen gibt, die ihn beschäftigen. Der Mann erzählt, dass er bewusst für seine Ausbildung hiergeblieben sei und nicht weggezogen wie so viele andere, aber dass das Leben hier schon öde sei manchmal. „So eine Dorfdisco wäre schon geil“, sagt Loik. „Kann man ja auch mal mitnehmen als Thema in den Kreistag.“ Eine Frau mit blondierten Haaren sagt auf Loiks Frage, was sie beschäftige, „weniger Ausländer, sonst ist alles intestine“, und läuft dann weiter. Ein Herr im Cordsakko will von Loik wissen, warum er die SPD und nicht die Linke wählen sollte: „Die SPD hat sich mit dem Kapitalismus abgefunden, das ist ihr Problem.“

Er will die Kinder einbeziehen

In Ober-Olm muss sich Matthias Becker die Strapazen des Straßenwahlkampfs nicht mehr antun. Bei seinen ersten beiden Wahlen hatte er noch eine Gegenkandidatin von der SPD, aber dieses Jahr haben die Sozialdemokraten niemanden mehr aufgestellt. Ob die CDU jemanden gefunden hätte, wenn Becker nicht mehr angetreten wäre, ist jetzt egal, er macht es ja noch mal. Weil die Bürger oft auch etwas Nettes sagen und weil er noch ein paar Ziele hat, das große Mehrgenerationenprojekt zum Beispiel oder eine nachhaltige Wärmeversorgung für die Gemeinde.

Matthias Becker braucht nochmal eine Requisite und holt ein Plakat des Ober-Olmer Kinderparlaments.
Matthias Becker braucht nochmal eine Requisite und holt ein Plakat des Ober-Olmer Kinderparlaments.Lucas Bäuml

Für den Punkt, auf den es Becker aber besonders ankommt, braucht er dann noch mal Requisiten. Er stürmt aus seinem Büro und kommt mit einem großen Paket zurück. Becker reißt die Schutzfolie ab und zeigt Bilder, die Ober-Olmer Schüler von Deutschland gemalt haben. Sie werden ausgestellt, wenn die Gemeinde ein paar Tage später auf dem Platz zwischen Rathaus und Kirche das Grundgesetz-Jubiläum feiert. Bevor er die Sache so ganz erklärt hat, eilt Becker schon wieder hinaus. Dieses Mal kommt er mit einem Plakat zurück, mit dem das Kinderparlament der Gemeinde seine Vorschläge präsentiert hat. „Ich bin der Überzeugung, dass Kinder die Welt zu einem besseren Ort machen, wenn wir ihnen die Möglichkeit dazu geben“, sagt Becker. „Wir müssen ihnen zeigen: Wenn man etwas tut, dann hat das ein Ergebnis, und zwar schnell, nicht erst nach fünfzehn Jahren, wie bei der Ampel.“

Am Ende ist es dasselbe wie das, was Becker den Erwachsenen vermitteln will und weshalb er sich auch gegen die wiederkehrende Idee wehrt, das große Mainz könnte das kleine Ober-Olm eingemeinden. Becker sagt: „Nur wenn die Mitbestimmung in der Breite existiert, können wir die Demokratie erhalten.“

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