East Germany and Thuringia are seismographs for Germany | EUROtoday

Get real time updates directly on you device, subscribe now.

Es hätte besser werden sollen in Thüringen, aber es kam schlimmer. Nach fünf Jahren rot-rot-grüner Minderheitsregierung sollte mit der Landtagswahl vom Sonntag Stabilität einkehren, die Weichen auf Zukunft gestellt werden. Doch Thüringen ist dort gelandet, wo es seit 2019 war. Es gibt keine klaren Machtverhältnisse. Einer möglichen „Brombeer-Koalition“ von CDU, BSW und SPD fehlt ein Sitz zur Mehrheit.

Die Lage ist aus demokratischer Sicht bedenklicher als zuvor. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ist eine als rechtsex­tremistisch eingestufte Partei stärkste Kraft in einem Parlament geworden. Die thüringische AfD, geprägt durch die Radikalität ihres Anführers Björn Höcke, hat 32 von 88 Mandaten errungen und ist daher bei Abstimmungen, die eine Zweidrittelmehrheit erfordern, in der Vetoposition. Das Parlament in Erfurt kann sich nicht einmal selbst auflösen, wenn die Rechtsaußenpartei es nicht will. Neue Verfassungsrichter können gegen deren Willen nicht gewählt werden ebenso wie wichtige Ausschüsse des Parlaments nicht besetzt. Die AfD wird diese neue Macht zur Erpressung nutzen. Hinzu kommt eine zweite populistische Partei, das BSW. Sie gibt sich demokratisch gesinnt, doch Biographie und Agenda ihrer Parteigründerin Sahra Wagenknecht lassen daran zweifeln.

Ein Bündnis mit dem BSW könnte großen Schaden anrichten

Die Wähler in Thüringen haben der Ampel in Berlin einen Denkzettel verpasst. Zwei der drei Koalitionspartner, Grüne und FDP, gehören dem Landtag nicht mehr an. Es drängt sich aber der Eindruck auf, dass viele Bürger in Parteien nicht mehr Orte demokratischer Partizipation sehen, sondern eine Ansammlung von Leuten, die „da oben“ regieren, während die „da unten“ nicht gehört werden. Die Bürger wollen schnelle Lösungen sehen für Probleme wie Kriminalität, ungeregelte Migration oder eine fehlende Infrastruktur auf dem Land. Diese Probleme gibt es. Doch AfD und BSW haben die Enttäuschung über fehlende Lösungen angeheizt, sie für ein Szenario des Niedergangs genutzt. Sie versprechen einfache Lösungen, die es nicht gibt.

Nun kommt es auf Thüringens CDU-Chef Mario Voigt an, das Beste aus der vertrackten Situation zu machen. Voigt hat keinen glanzvollen Wahlsieg errungen. Als eher durchschnittlich charismatischer Politiker hatte er es in einem doppelten Abwehrkampf mit den Feuerrednern Höcke und Wagenknecht zu tun. Voigt ist es immerhin gelungen, sich als Herausforderer Höckes zu etablieren und den Linke-Ministerpräsidenten Bodo Ramelow im Kampf um das Amt des Ministerpräsidenten aus dem Feld zu schlagen. Nun versucht Voigt, durch Vortasten das Thüringer Minenfeld zu sondieren. Ersten „Optionsgesprächen“ werden Sondierungen folgen, dann vielleicht Koalitionsverhandlungen. Das Ganze wird Zeit brauchen. Am Ende könnte eine Unterstützung durch die Linkspartei stehen, über deren Form noch gerätselt werden darf. Dass Bodo Ramelow, dessen Partei gerade 19 Prozentpunkte verloren hat, sich mäandernd mal als Retter der Demokratie aufspielt, um dann eine rot-rot-rote Minderheitsregierung ins Spiel zu bringen, macht die Sache nicht einfacher.

Was will Wagenknecht?

Der Versuch, eine in ihrer Zusammensetzung bisher unbekannte Koalition zu schmieden, ist für Voigt und die CDU nicht ohne Risiko. Ein Bündnis mit dem BSW, in dem die Wagenknecht-Partei die Union vorführt, könnte großen Schaden anrichten. Schon jetzt warnen Stimmen in der Union mit guten Argumenten vor diesem Wagnis, man denke nur an den kremlfreundlichen Kurs Wagenknechts. Doch gibt es aus Sicht der Thüringer CDU keine andere Möglichkeit, als den Versuch zu wagen. Der Thüringer BSW-Spitzenkandidatin Katja Wolf kann man abnehmen, dass sie ihre Heimat im Blick hat. Ob aber Wagenknecht nicht den Senkrechtstart ihrer Partei nur als Aufgalopp für einen bundesweiten Erfolg im kommenden Jahr sieht, bei dem Regierungsbeteiligungen eher schaden würden, ist noch nicht ausgemacht. Ihre abstrusen Forderungen nach einer Veränderung der Außen- und Verteidigungspolitik durch Landesregierungen deuten darauf hin.

Man könnte meinen, die Machtverhältnisse in Thüringen, einem Land mit 2,1 Millionen Einwohnern, sind ein Sonderfall und für Deutschland nicht entscheidend. Doch gegen eine solche Sicht spricht viel. Die AfD wird absehbar stark bleiben, viele ihrer Wähler haben gefestigte Positionen. AfD und BSW vereint das Ziel, die liberale Demokratie zu unterminieren. Ostdeutschland und Thüringen sind der Seismograph einer allgemeinen Entwicklung. Die Fragen von Peripherie und Zentrum, der Rolle der Parteien in der Gesellschaft, von Filterblasen im Internet und der Zukunft kritischer politischer Information, von Kulturkampf und sozioökonomischem Wandel betreffen Ost wie West. In Thüringen stellen sie sich seit Sonntag besonders eindringlich.

https://www.faz.net/aktuell/politik/ostdeutschland-und-thueringen-sind-seismograph-fuer-deutschland-19965859.html