Biden's farewell speech: Between legacy administration and legroom | EUROtoday

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Nach den Signalen der vergangenen Wochen dürfte Joe Biden zuletzt nicht mehr damit gerechnet haben, alsbald einen Erfolg im Nahen Osten verkünden zu können. Zu trübe waren die Aussichten, einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas zu vermitteln und einen Geisel-Deal zu vereinbaren. Wenn der scheidende amerikanische Präsident sich am Dienstag ein letztes Mal an die Generalversammlung wendet, muss er sogar eingestehen, dass es noch schlimmer gekommen ist. Es ist eingetreten, was Biden seit dem 7. Oktober vergangenen Jahres zu verhindern versuchte: eine militärische Eskalation an der zweiten Front.

Wenngleich noch offen ist, ob die israelische Machtdemonstration in Libanon die Hizbullah dazu bringen wird, ihren Beschuss auf das südliche Nachbarland einzustellen, oder tatsächlich ein langwieriger Libanon-Krieg droht – Bidens New Yorker Abschiedsrede wird durch die Eskalation überschattet. Und das heißt: Sein Vermächtnis wird potentiell beschädigt und der Wahlkampf seiner Vizepräsidentin Kamala Harris belastet. Sein Wille, in der Zeit bis Januar Amerikas Ordnungsmacht zu nutzen, ist aber ungebrochen. Ohne den Druck, seine Wiederwahl sichern zu müssen, besitzt er zumindest mehr Beinfreiheit.

Als Biden im Herbst 2021 nach den vier disruptiven Jahren unter Donald Trump seine erste Rede als Präsident vor den Vereinten Nationen hielt, ging es ihm nicht nur darum, vor der Weltöffentlichkeit zu verkünden, dass Amerika wieder da sei – was heißen sollte: Washington engagiere sich wieder im internationalen System und wertschätze seine Bündnisse, die unter dem Republikaner Schaden genommen hatten. Der Präsident verzichtete auch nicht auf Selbstlob: Er habe nach 20 Jahren „den Konflikt in Afghanistan“, die Zeit eines „unerbittlichen Krieges“ beendet und eine „neue Ära der Diplomatie“ begonnen. Dass der Abzug der Soldaten vom Hindukusch in Wirklichkeit in blamablem Chaos verlief, verschwieg er freilich.

Biden will Soldaten aus dem Irak heimholen

Auch wenn im Weißen Haus hervorgehoben wird, Biden gehe es in den ihm verbleibenden Monaten nicht um sein Vermächtnis, feilt seine Kernmannschaft doch genau daran: So haben seine Diplomaten in den vergangenen Wochen mit der irakischen Regierung an einem Plan gearbeitet, die amerikanischen Truppen aus dem Land abziehen. Der Kampfeinsatz gegen die Terrororganisation „Islamischer Staat“ wurde zwar schon 2021 beendet, doch blieben 2500 Soldaten im Irak – und 900 in Syrien. Diese will Biden vor seinem Ausscheiden aus dem Amt heimholen, auch um sagen zu können, er habe Amerikas „ewige Kriege“ beendet. Dass die Truppen zudem immer wieder zum Ziel proiranischer Milizen in der Region sind, bestärkt den Präsidenten in seinem Wunsch.

Biden wird aber mit derlei Vermächtnismanagement kaum durchdringen. Zu sehr wird die internationale Politik vom Nahostkonflikt und dem Krieg in der Ukraine überlagert – im Wahljahr in Amerika freilich auch innenpolitisch. Längst sind Benjamin Netanjahu, der israelische Ministerpräsident, und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj dabei, Trump gleichsam für den Fall der Fälle nicht nur in ihr Kalkül, sondern auch in ihre Diplomatie wieder mit einzubeziehen. Netanjahu besuchte den republikanischen Präsidentschaftskandidaten, mit dem er in dessen Amtszeit beste Beziehungen pflegte, im Sommer in dessen Anwesen in Mar-a-Lago in Florida. Und auch Selenskyj, dessen Verhältnis zu Trump viel belasteter ist, telefonierte kürzlich mit ihm.

Der ukrainische Präsident, der am Montag eine Munitionsfabrik in Scranton in Pennsylvania besichtigte, wird sich in New York an die Generalversammlung wenden und an einer Sitzung des Sicherheitsrates teilnehmen, bevor er am Donnerstag mit Biden in Washington zusammentrifft.

Nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten hatte Selenskyj verkündet, er werde seinen „Siegesplan“ in Amerika präsentieren – und Biden werde diesen „als erster vollständig sehen“. Zudem wolle er den Plan „allen Staats- und Regierungschefs unserer Partnerländer“ vorlegen sowie dem amerikanischen Kongress und den beiden Präsidentschaftskandidaten Harris und Trump. „In diesem Herbst wird sich entscheiden, was als nächstes in diesem Krieg passieren wird“, kündigte er vollmundig an.

Am Montag traf Selenskyj in New York schon mit Bundeskanzler Olaf Scholz zusammen. Was die Reihenfolge der Unterrichtung anbelangt, ist zu sagen, es ist einerseits schwer vorstellbar, dass der Präsident den Kanzler, dessen Land der zweitgrößte Waffenlieferant ist, über seine Absichten gänzlich im Dunkeln gelassen hat. Andererseits hatte man in Berlin schon vorher eine vage Vorstellung davon, was Selenskyj vorlegen wird. Es ist kein Geheimnis, dass er seine Forderung bekräftigen dürfte, es seinen Streitkräften zu erlauben, vom Westen gelieferte Raketen mit großer Reichweite auch für Angriffe auf Ziele tief im russischen Gebiet nutzen zu dürfen.

London tendiert offenbar dazu. In Washington ist die Lage komplizierter. Im State Department unterstützt man die Linie, im Pentagon ist man indes skeptisch. Biden selbst ist noch zögerlich. Nachdem der Präsident kürzlich in Washington mit dem britischen Premierminister Keir Starmer zusammengetroffen war, sagte Letzterer, man werde über die Frage in New York weiterreden. Kiew ist überzeugt, dass der Einsatz der westlichen Waffen gegen Ziele auf russischem Gebiet das Kriegsgeschehen mehr als zweieinhalb Jahre nach Beginn des russischen Überfalls zugunsten der Ukraine beeinflussen kann. Ziel ist es, russische Logistik im Landesinneren zu zerstören und Militärflugplätze anzugreifen.

Besetzung russischen Gebietes als Faustpfand

Der Siegesplan Selenskyjs ist freilich auch vor dem Hintergrund der ukrainischen Kursk-Offensive zu sehen, also der Besetzung russischen Gebietes – gleichsam als Faustpfand. Selenskyj sagte kürzlich, er könne nicht hundertprozentig sagen, dass sein Plan Wladimir Putin stoppe, aber er werde die Ukraine stärker machen und den russischen Machthaber dazu zu bringen, darüber nachzudenken, den Krieg zu beenden.

Washington hat Kiew ATACMS-Artillerieraketen geliefert; London und Paris haben den britisch-französischen Marschflugkörper vom Typ Scalp/Storm-Shadow bereitgestellt. Berlin lehnte hingegen – schon vor der Debatte über Angriffe ins russische Hinterland – die Lieferung des eigenen Marschflugkörpers vom Typ Taurus ab. Die weitreichendste von Deutschland gelieferte Waffe ist der Raketenwerfer Mars II, der Ziele in 84 Kilometern Entfernung treffen kann. Für ein begrenztes Gebiet um Charkiw hat die Bundesregierung den Einsatz dieser Waffe oder auch der Panzerhaubitze 2000 mit einer Reichweite von 56 Kilometern gegen Ziele auf russischem Boden erlaubt.

Scholz bekräftigte vor seinem Treffen mit Selenskyj am Montag, dass er die Regeln für den Einsatz deutscher Waffen im ukrainischen Abwehrkampf gegen Russland nicht weiter lockern wolle. Die Bundesregierung habe mit Blick auf die militärische Unterstützung der Ukraine „ein paar Entscheidungen“ getroffen, „die für mich sehr klar sind“. Dazu gehöre auch, dass Deutschland Reichweitenbeschränkungen nicht aufheben werde. Scholz: „Das ist mit meiner persönlichen Haltung nicht vereinbar. Wir werden das nicht machen. Und dafür haben wir gute Gründe.“

Scholz sagte, er sehe eine „große Eskalationsgefahr“. Putin hatte kürzlich gesagt, dass er den Einsatz weitreichender westlicher Präzisionswaffen gegen Ziele tief auf russischem Territorium als Kriegsbeteiligung der NATO werten würde. Washington hat die Drohung freilich auch zur Kenntnis genommen. Die amerikanische Regierung hob hernach hervor, zwar nehme man Putin Worte ernst, doch mache man eigene Kalkulationen.

https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/bidens-abschiedsrede-zwischen-vermaechtnismanagement-und-beinfreiheit-110004837.html