Merkel’s memoirs: Revered and cursed | EUROtoday
Angela Merkel hat ihren Memoiren den Titel „Freiheit“ gegeben. Das Buch hätte aber auch „Alternativlos“ heißen können. Mit diesem Adjektiv hatte Merkel zu ihren aktiven Zeiten zu verstehen gegeben, dass man vernünftigerweise etwas nicht anders sehen und entscheiden könne, als sie es tue. Auch im Rückblick auf ihre Kanzlerschaft ist sie sich sicher, dass ihre Entscheidungen richtig waren, insbesondere jene, für die sie von den einen nach wie vor verehrt und von anderen immer noch verflucht wird.
Warum schreiben Politiker überhaupt über sich und ihre Sicht der Dinge, wo doch schon über alles geschrieben worden ist, was sie je getan und öffentlich gesagt haben, und das aus ganz verschiedenen Perspektiven? Weil sie, wie es auch Merkel in ihrem Vorwort darlegt, die „Schilderung und Interpretation nicht allein anderen überlassen“ wollen, jedenfalls nicht ihren Kritikern. Staatsmänner und -frauen wollen nicht nur die Welt in ihrem Sinne verbessern, sondern auch das Bild, das die Welt von ihnen hat. Merkels Memoiren erscheinen in mehr als zwei Dutzend Ländern.
Den Entschluss, über sich selbst zu schreiben, fasste Merkel nach eigener Darstellung an dem Punkt, der tatsächlich die Zeitenwende in ihrer Kanzlerschaft markiert. Zur Zäsur wurden nicht die Eurokrise, nicht Fukushima, nicht die Eroberung der Krim durch Putin, sondern der nächtliche Beschluss der Kanzlerin im September 2015, einige Tausend Flüchtlinge einreisen zu lassen, die sich über Ungarn und Österreich auf den Weg nach Deutschland gemacht hatten.
AfD und BSW profitieren noch heute von Merkels Politik
Merkel hielt auch in der Folgezeit daran fest, die Grenzen unkontrolliert offen zu lassen – Deutschland schaffe das. Doch bis heute kämpft Deutschland mit Problemen, deren Auftreten damals schon absehbar war: schleppende Integration bis hin zur Verweigerung derselben, Ausbreitung von Parallelgesellschaften, wachsende Kriminalität, Import von Islamismus und Antisemitismus.
Diese Phänomene begünstigten auch in der autochthonen Bevölkerung eine politische Polarisierung und Radikalisierung. Merkels Flüchtlingspolitik wurde zu einem bis heute nachwirkenden Konjunkturprogramm für die AfD mit all den Folgen, die deren Erstarken für die Politik im Bund und in den Ländern hat. Auch das BSW profitiert noch davon. Merkel könnte sich mit Fug und Recht rühmen, erheblichen Einfluss auf die Veränderung der deutschen Parteienlandschaft genommen zu haben. Es verwundert nicht, dass sie in ihren Memoiren darauf verzichtet.
Auch manches andere bleibt unbehandelt, das einen Schatten auf das Selbstbildnis einer Frau werfen könnte, die immer alles vom Ende her bedacht haben wollte und sich das in ihrem Rückblick auch noch einmal bestätigt.
Sie war eine Ausnahmeerscheinung
Doch selbst wer die Lücken in Merkels Memoiren mit eigenen Erinnerungen an ihre Irrtümer und die weniger glanzvollen Episoden auffüllt, kann ihr nicht den Status einer politischen Ausnahmeerscheinung absprechen. Die Überlebensbedingungen im Amt des Kanzlers hat Joseph Fischer, dem es nicht an Selbstbewusstsein mangelte, einmal mit der sogenannten Todeszone auf den höchsten Bergen verglichen. Sich in der extrem dünnen und kalten Luft sechzehn Jahre lang zu halten, schaffte außer Merkel bisher nur Helmut Kohl, den ein langes politisches Leben auf die Härte des höchsten Gipfels vorbereitet hatte.
Olaf Scholz konnte seinen Laden, die Koalition wie die Partei, schon nach drei Jahren nicht mehr zusammenhalten, obwohl er wie die Kanzler, die vor Merkel kamen, im politischen System der Bundesrepublik aufgewachsen war. Die Physikerin aus der DDR aber musste, als sie „Kohls Mädchen“ wurde, erst einmal lernen und durchschauen, wie in einer Mehrparteiendemokratie Politik gemacht wird. Über Seilschaften, wie der „Andenpakt“ eine war, verfügte sie nicht, über die Unterstützung eines starken Landesverbandes auch nicht.
In der Migrationsfrage blieb sie unbeirrbar auf Kurs
Merkel hielt sich trotzdem 18 Jahre an der Spitze der CDU und volle vier Legislaturperioden lang als Kanzlerin unterschiedlicher Koalitionen, weil sie die Mechanismen der politischen Macht schnell durchschaut, verinnerlicht und geschickter genutzt hat als ihre Konkurrenten in der eigenen Partei und beim politischen Gegner. Das war nur auf Kosten einer politischen Beweglichkeit möglich, die ihr nicht schwerfiel. Manche sehen darin Pragmatismus, andere Prinzipienlosigkeit. In der Migrationsfrage blieb sie unbeirrbar auf ihrem Kurs.
Merkel hat Deutschland und Europa geeint und gespalten, Krisen bewältigt und Krisen in Kauf genommen. Sie hat selbst entschieden, wann es Zeit ist zu gehen. Inwieweit es ihr auch noch gelingt, mit ihren Memoiren Einfluss auf das Bild zu nehmen, das die Deutschen und die übrige Welt von ihr haben, bleibt abzuwarten. Überraschendes, das ein neues Licht auf Merkels Kanzlerschaft werfen und Unverständliches verständlicher machen würde, sucht man in „Freiheit“ vergebens.
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