Sociologist Carolin Amlinger on loneliness in democracy | EUROtoday
Allein zu sein ist mit ambivalenten Gefühlen verbunden. In liberalen Gesellschaften gilt für sich sein als erstrebenswerter Zustand: Wenn man sich zurückzieht, wenn man die Tür vor dem Lärm des Alltags schließt, kommt man zu sich: In diesem Raum der Unverfügbarkeit, zu dem nur ich den Schlüssel habe, kann ich ganz ich selbst sein.
Klopft aber niemand mehr an die verschlossene Tür, empfindet man das Alleinsein schnell als tiefen Mangel. Auf sich selbst zurückgeworfen zu sein, wie es dann heißt, kann beklemmend sein. Dann fühlen wir uns einsam, „mutterseelenallein“ oder „gottverlassen“. Einsamkeit ist ein existenzielles Gefühl der Trennung und Absonderung.
So verkümmert die Demokratie
Im „Einsamkeitsreport 2024“ der Techniker Krankenkasse gaben rund 60 Prozent der Befragten an, mit dem Gefühl der Einsamkeit vertraut zu sein. Gleichzeitig aber fühlt sich ein Großteil gut sozial eingebunden – über Familie, Freunde, Nachbarn oder eine Partnerschaft. Wir sind also beisammen und doch vereinzelt? Diese Beobachtung machte bereits Alexis de Tocqueville 1831 auf seiner Amerikareise.
Die junge Demokratie steigere dort zwar die Gleichheit der Menschen untereinander – aber genau daraus folge eine „Einsamkeit der Herzen“. Umso gleichgestellter die Menschen, desto gleichgültiger seien sie gegenüber ihren Mitbürgern. Der Rückzug ins Private, in die Familie und den Freundeskreis, nahm Tocqueville als Defizit der Demokratie wahr. Der Grund, warum die Demokratie sich selbst untergrabe, war für ihn: rastloses Streben nach Sicherheit. Er sah keine demokratischen Leidenschaften, nur das kalte Kalkül der Privatinteressen.
Die Gleichheit in der Demokratie wird heute porös. Wir nehmen uns weniger als Gleiche, mehr als Verschiedene wahr. Die Einkommensungleichheit ist gewachsen, parallel sinkt der Glaube an die Demokratie. Auch heute sind die Herzen einsam, auch heute weniger die der Privatmenschen als die der Bürger. Doch das schmerzhafte Gefühl der Trennung gründet nicht auf der Angleichung, sondern auf den Abweichungen in den Lebenschancen. Wir fühlen uns ganz auf uns allein gestellt, obwohl wir in soziale Netze eingebunden sind.
Die Armut ist, was das Herz der Demokratie verkümmern lässt.
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kolumnen/soziologin-carolin-amlinger-ueber-einsamkeit-in-der-demokratie-110182708.html