Why the Germans like totally different Christmas music than the French | EUROtoday
Der französische Ernährungsforscher Jean Anthelme Brillat-Savarin wusste bereits an der Wende zum neunzehnten Jahrhundert: „De gustibus non est disputandum“. Also: Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Es gibt hier kein Richtig oder Falsch. Und doch, so lernen wir es in Hans-Georg Gadamers „Wahrheit und Methode“, war „Geschmack“ einmal die ästhetische Form des Gemeinsinns, will heißen: ein unbemerkter Hintergrund kollektiver Verständnisübereinkunft.
Er ist es noch immer. Große Konzerne bringen ihre Lust- und Naschprodukte gern in Geschmacksvarianten für nationale Genusskollektive auf den Markt. So vertrieb ein 1706 gegründetes britisches Teehaus einen mit Zimt und Orangen aromatisierten Schwarztee lange nur als „Thé Orange Cannelle“ in Frankreich. In Deutschland kam man nicht so leicht an das gute Zeug. Diese deutsch-französische Geschmacksgrenze gibt es auch in der Musik, und sie wird dieser Tage deutlich hörbar.
Mit Pauken und Trompeten
Barockes Weihnachten in Deutschland, im protestantischen Raum Sachsens, Thüringens und Frankens, bedeutet meistens Pauken und Trompeten. Die Trompeten klingen besonders gut in D-Dur. Man denke an den Anfang des „Weihnachtsoratoriums“ von Johann Sebastian Bach. D-Dur heißt auf Italienisch re maggiore, wörtlich: „großer König“. Eine zauberhafte CD von Jordi Savall mit dem Titel „Noël Baroque au temps de Louis XIV“ stellt uns nun Weihnachtsmusik von Marc-Antoine Charpentier aus der Zeit Ludwigs XIV. vor.
Hier hört man viel Moll und Block- wie Barockquerflöten, aber keine Pauken und Trompeten. Die Trompeten sind Instrumente des Königs, die Flöten der niederen Hirten. Moll heißt im Französischen mineur und bedeutet wörtlich zugleich „gering“. Im Land der Kleinstaaterei erscheint der Heiland als großer König, im Reich des großen Sonnenkönigs kommt er als der gute Hirt und „einer deiner Ganzgeringen“, wie Rilke gedichtet hätte, daher.
Nun hat freilich auch Bach das Weihnachtsgeschehen im „Et incarnatus“ seiner h-Moll-Messe eben in h-Moll gefasst, wie umgekehrt Charpentier in seiner kunstvoll-armseligen Messe de Minuit zu Weihnachten, als wäre er ein in der Wolle gefärbter Lutheraner, das volkstümliche landessprachliche Lied „Une jeune pucelle“ ins Kyrie der katholischen Messe mit deren griechisch-lateinischem Text einfügt. Exakt diese Melodie findet sich heute unter der Nummer 10 im Evangelischen Gesangbuch.
Es ist das Adventslied „Mit Ernst, o Menschenkinder“. Wenn Deutsche und Franzosen, um deren Verhältnis es gerade nicht gut bestellt sein soll, aufeinander hören würden, könnten sie in ihrer Verschiedenheit ihr Bezogen-Sein erkennen und wieder Geschmack aneinander finden. Nicht nur zur Weihnachtszeit.
https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/warum-die-deutschen-andere-weihnachtsmusik-moegen-als-die-franzosen-110190944.html