Transition from the flood | EUROtoday

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In der Europäischen Zentralbank (EZB) hat eine Debatte eingesetzt, ob die Leitzinsen sich jetzt in der Nähe oder womöglich schon im Bereich des neutralen Zinsniveaus befinden, in dem die Wirtschaft weder gebremst noch angeschoben wird. Das könnte es notwendig machen, so langsam mal über einen künftigen Stopp oder eine Pause der Leitzinssenkungen nachzudenken. EZB-Direktoriumsmitglied Isabel Schnabel war in dieser Frage vorgeprescht, Bundesbankpräsident Joachim Nagel hatte sich am Dienstagmorgen auf der Bundesbank-Bilanzpressekonferenz eher etwas zurückhaltend geäußert – auch wenn er Schnabel als gute Ökonomin schätze. Am Dienstagnachmittag legte sie mit einer Grundsatzrede bei der Bank of England in London nach.

Schnabels These: In Zukunft würden zur Aufrechterhaltung der Preisstabilität womöglich höhere reale Zinssätze erforderlich sein als in der Vergangenheit – deswegen müsse die EZB aufpassen. Die globalen Anleiheinvestoren hätten den erwarteten zukünftigen Kurs der Geldpolitik grundlegend neu bewertet. Diese höheren Markterwartungen zum neutralen Niveau des Zinses, von Ökonom gern r* genannt, stimmten überein mit zwei Beobachtungen. Die erste sei, dass die Ära, in der die Risiken für die Inflation beständig nach unten gerichtet gewesen seien, wohl zu Ende gegangen sei. „Wachsende geopolitische Zersplitterung, Klimawandel und Arbeitskräftemangel stellen auf mittlere bis lange Sicht messbare Aufwärtsrisiken für die Inflation dar.“ Die zweite Beobachtung sei, dass die Welt von einer globalen „Sparflut“ zu einer globalen „Anleiheschwemme“ übergehe, sagte Schnabel.

Larry Summers Sparflut

Die Theorie von der Sparflut („Savings glut“), einem globalen Überhang der Ersparnisse über die Investitionen, der für die außergewöhnlich niedrigen Zinsen schon vor allem Eingreifen der Notenbanken verantwortlich sei, hatte vor gut einem Jahrzehnt der Ökonom und frühere US-Finanzminister Larry Summers populär gemacht. In Deutschland hatte sich unter anderem der Kölner Ökonom Carl Christian von Weizsäcker mit dem Thema befasst.

Nun gebe es eine strukturelle Veränderung, meint Schnabel: Die großen Haushaltsdefizite der Staaten und der Abbau der Anleihebestände der Notenbanken verringerten die Prämien, die Investoren zu zahlen bereit seien, um knappe Staatsanleihen zu halten. Das beeinflusse den Kapitalmarktzins. Mit dem Rückgang dieser Prämie („convenience yield“) kehre sich ein Schlüsselfaktor um, der in den 2010er-Jahren zum Rückgang der realen langfristigen Zinssätze und des neutralen Zinsniveaus beigetragen habe.

Dauerhafte Veränderungen im Inflationsregime

Für die Geldpolitik habe das drei Folgen, meint die Notenbankerin. Erstens erfordere ein höheres neutrales Zinsniveau eine sorgfältige Überwachung, wann die Geldpolitik nicht mehr restriktiv sei. Das greift in die aktuelle Debatte ein, in der Schnabel zur Vorsicht mahnt. Zweitens könnte die Bilanzpolitik der Notenbanken selbst über diese Prämie das neutrale Zinsniveau beeinflussen, was sie möglicherweise weniger effektiv mache als bislang angenommen. Und drittens gebe es Auswirkungen für das Verhältnis von Notenbanken zu Geschäftsbanken hinsichtlich der Bereitstellung von Liquidität.

Die Aufwärtsverschiebung des neutralen Zinsniveaus signalisiere dauerhafte Veränderungen im Inflationsregime, meint Schnabel. Seit 2021 seien die Renditen langfristiger Staatsanleihen in den Industrieländern spürbar gestiegen. Heute liege die Rendite der Bundesanleihe mit zehn Jahren Laufzeit etwa 2,5 Prozentpunkte höher als Ende 2021. Damals stand sie bei gut minus 0,1 Prozent, heute liegt sie bei etwa 2,4 Prozent. „Bemerkenswert an diesem Anstieg der nominalen Anleiherenditen ist, dass er nicht durch eine Änderung der Inflationskompensation getrieben wurde“, meint Schnabel.

Die Ansichten der Investoren über die künftigen Inflationsaussichten seien im Großen und Ganzen die gleichen wie vor drei Jahren. Vielmehr seien die nominalen Zinssätze aufgrund höherer realer Zinssätze gestiegen. Ein Teil davon sei eine „mechanische Reaktion“ auf die Straffung der Geldpolitik. Bemerkenswert sei aber, dass Investoren auch den realen kurzfristigen Zinssatz für die Zeit nach einem möglichen Erreichen des EZB-Inflationszieles heute höher sähen.

So manches hat sich umgekehrt

Dieser Zinssatz werde typischerweise als Schätzung für den neutralen Zins angenommen. „Wir sehen eine ähnliche Aufwärtsverschiebung in modellbasierten Schätzungen für r*“, sagte Schnabel. Ihre Schlussfolgerung: „Wir werden wahrscheinlich nicht zum makroökonomischen Umfeld der Vor-Pandemie-Zeit zurückkehren, in dem Zentralbanken die realen Zinssätze tief in negative Bereiche bringen mussten, um ihr Preisstabilitätsmandat zu erfüllen.“

Warum erwarteten die Märkte eine Trendwende? „Eine Antwort ist, dass einige der Kräfte, die in den 2010er-Jahren die Inflation belastet haben, sich nun umkehren“, meint Schnabel. Die Globalisierung sei ein Beispiel: Die Integration Chinas und anderer Schwellenländer in die globale Arbeitsteilung und das Verschwinden von Zollschranken seien über mehrere Jahrzehnte hinweg wichtige Faktoren gewesen, die den Preisdruck in den Industrieländern verringert hätten.

Heute dominierten protektionistische Kräfte. Diese könnten Auswirkungen auf die Preisentwicklung haben. Die europäischen Gaspreise etwa seien im Vergleich zum Vorjahr um 65 Prozent gestiegen, auch die Ölpreise hätten seit September zugelegt, zum Teil wegen der Abwertung des Euros: „Während Rohstoffpreise von Natur aus volatil sind, werden andere Deglobalisierungsfaktoren wie die Verlängerung der Lieferketten den Preisdruck nachhaltig erhöhen“, meinte Schnabel.

Und doch stelle der Anstieg der langfristigen realen Zinssätze im Euroraum ein Rätsel dar, weil er typischerweise mit Verbesserungen auf der Angebotsseite verbunden sei, etwa hinsichtlich von Produktivität, Arbeitskräften und Kapitalstock. Wenn das nicht der Fall sei, müsse es andere Gründe für den Anstieg geben. Alles deute deshalb darauf hin, dass Marktteilnehmer heute die Liquidität- und Sicherheitsleistungen von Staatsanleihen weniger schätzten als in der Vergangenheit. Das seien Folgen der Anleiheschwemme, die eine Sparflut abgelöst habe.

Auf dieses neue Umfeld müssten die Notenbanken sich einstellen, meint Schnabel, wenn sie mittelfristig die Preisstabilität sichern und ihre Geldpolitik effizient umzusetzen wollten.

https://www.faz.net/aktuell/finanzen/finanzmarkt/ezb-uebergang-von-der-sparflut-zur-anleiheschwemme-110322115.html