ESC 2025: Yuval Raphael, der einzige Pathos-Moment des ESC | EUROtoday
Gut, gewonnen hat den 69. Eurovison Song Contest in Basel – 11 Jahre nach Conchita Wursts phönixhaftem Schlageraufstieg – neuerlich Österreich. Und das erneut mit einem „queeren“ Sänger, noch dazu dem mit der besten Stimme: JJ alias Johannes Pietsch, ehemaliger Wiener Sängerknabe, jetzt Countertenor. Vor vier Monaten stand der 24-Jährige noch an der Wiener Staatsoper in der „Zauberflöten“-Premiere auf der Bühne, jetzt räumte er mit seiner feuchten Powerballade-goes-Techno-Finale-„Wasted Love“ auf der noch größeren Bühne der St. Jakobshalle verdientermaßen ab.
Zweite Siegerin wurde die israelische 7.-Oktober-Überlebende Yuval Raphael, die mit „New Day Will Rise“ ebenfalls auf apotheotische Vokalpower setzte. Die Fachjury hatte sie nur auf Platz 15 gesehen. Dritter Sieger wurde der lange belächelte estnische Beitrag „Espresso Macchiato“ von Tommy Cash, mit Fetthaaren und wabbeligen Twist-Knien, eine der typischen ESC-Gaga-Nummern.
Und auch der 4. Platz für den skurrilsten Mitklatsch-Partyhit passte, die von den Wettbüros gehypten Schweden aus Finnland KAJ mit ihrem Loblied auf Saunieren und Würstchengrillen: „Bara Bada Bastu“. Die von den Fachjurys noch auf Platz zwei gewählte Schweizer Lokalmatadorin Zoë Më bekam hingegen null Publikumspunkte für ihr brav-fades, in Großaufnahme geträllertes „Voyage“. Das reichte letztlich nur für Platz 10.
Das Publikum will das Grelle, Glamouröse, Gänsehautmachende
Was zeigt: Im Publikum des größten Musikfestivals der Welt – vermutlich meinungsdominiert von nicht wenigen queeren Menschen – will man das Bunte, Grelle, Glamouröse, Gänsehautmachende. Das wiederum battle bei dieser äußerst heteronormativen, insgesamt sehr gleichmacherisch ruhigen ESC-Ausgabe 2025 nur äußerst selten im Angebot. Obwohl der ESC dieses Jahr in höherem Maße die Medien beherrschte als früher, sei es nun aus politischen Gründen wie in der Diskussion um die umstrittene Teilnahme Israels oder aus künstlerischen.
In Deutschland machte der ESC natürlich auch Schlagzeilen, weil Stefan Raab erstmals offiziell für die ARD mitmischte. Aber auch in den anderen Teilnehmerländern von Albanien und Armenien bis Aserbaidschan (wo die Fachjury des muslimischen Landes die Höchstnote für Israel vergab!) und dem vorab ausgeschiedenen Australien wurden die verschiedenen Beiträge genau studiert und verglichen.
Mit der Präzision – aber auch Überraschungslosigkeit – eines Schweizer Uhrwerks lief dann die schlackenfrei straffe Präsentation der helvetischen Ausrichter ab. Das ebenso taff professionelle wie charmegestriegelte Moderatorinnen-Trio Michelle Hunziker (lebt in Italien), Hazel Brugger (lebt in Deutschland) und Sandra Studer lieferten in pannenfreien Outfits erstklassige Aufsager in Englisch, Französisch, Italienisch (aber leider nicht Schwyzerdütsch) ab. Und auch die deutsche Kommentatorenstimme (Thorsten Schorn) produzierte bei ihrem zweiten ESC-Einsatz im Prinzip reibungsloses Wortgeplänkel.
Céline Dion kam nicht zur singenden Stippvisite
Und so gab nur ganz wenige Momente echter Rührung, fataler Spannung oder Wow-Crazyness: Denn natürlich kam (angeblich wurde ihr Privatflieger bereits gesehen) Céline Dion, die 1988 den Wettbewerb für die Schweiz mit „Ne partez pas sans moi“ noch gewonnen hatte, nicht zur singenden Stippvisite. Es gab auch keine Videobotschaft der schwer erkrankten Kanadierin.
Bis zu den endgültigen Voting-Verkündigungen durften dafür mindere Schweizer ESC-Legenden wie Peter, Sue & Marc (Vierte 1989 mit „Io senza te“) und Paola (Vierte 1980 mit „Cinéma“) als Lückenbüßer in kleinen Kurorchestermuscheln ran. Sandra Studer, die als Sandra Simò mit „Canzone per te“ beim ESC 1991 Fünfte geworden battle, hatte ihren alten Hit schon während des Kandidatendurchlaufs samt spektakulärem Kostümwechsel auf offener Bühne gesungen.
Dann gab es eine Schalte zum „Public Viewing“ mit 36.000 Leuten im nahegelegenen Stadion. Die machten dann den „Sing Along“ für das obligatorische „Waterloo“, den auf immer und ewig erfolgreichsten ESC-Siegertitel von ABBA 1974 in Brighton.
Wasserwerfer in der Baseler Innenstadt
Während in der Baseler Innenstadt gegen palästinafreundliche und antiisraelische Demonstranten Wasserwerfer eingesetzt werden mussten, verlief in der Halle alles ruhig; auch eine Farbattacke auf Yuval Raphael wurde verhindert.
Zum ESC-Auftakt gab es trockenen Humor im James-Bond-Style um die – angeblich fehlende – Trophäe in Gestalt eines 2,8 Kilo schweren Glasmikrophons, die Nemo, der Gewinner von 2024, zerbrochen hatte. Die wurde dann, ebenso pittoresk wie werbewirksam, durch die mal verschneite, mal sonnenstrahlende Bergwelt transportiert, wobei sogar Nicole mit ihrem deutschen Siegertitel von 1982, „Ein bisschen Frieden“, als unsichtbar ziegenhütende Heidi herhalten musste.
Nemo, nonbinär, aber stetig weiblicher ausstaffiert, durfte Nemo anschließend mit weißer Overzize-Schapka zum ebenso farbigen Cinderella-Ballkleid nochmals seinen Siegertitel „The Code“ performen. Zu seiner verqueeren Weltsicht, Einschränkung der LGBTQIA+-Rechte weltweit zu beklagen, aber gleichzeitig Israel das Auftrittsrecht abzusprechen und zum Boykott aufzurufen, wurde offiziell natürlich nichts gesagt. Dafür kam Nemo nochmals mit dem neuen Song „Unexplainable“ auf die Bühne. Leise Gitarrenriffs, eine glitzernde Leiter, Nemo im sehr viel Haut zeigenden Kit-Kat-Fetisch-Outfit, ein wenig verkrampft. Am Ende flog die Knef-Perücke weg wie einst bei Mary & Gordy.
Weiter ging es mit dem in der Schweiz so geliebten Fahnenlaufen der Teilnehmer mit ihrer jeweiligen Nationalflagge. Und dann ging es schon los, nur unterbrochen durch penetrantes Stadtmarketing, welches die vielen Produktionsmillionen offenbar wenigstens zum Teil wieder reinholen möchte: Jeder Kandidat bekam als Einspieler einen Brief, der ihn wahlweise in die Straßenbahn oder in die Käserei schickte, wohl auch, um die 35-sekündigen Umbaupausen zu überbrücken.
Und die Bühne? Die hatte vorn einen großen LED-Rahmen, Boden wie Rückwand wurden zu komplett bildfüllenden Pixelfolie, die die singenden Menschen nicht selten zur Nebensache degradierte. Denn schließlich waren ja auch noch die unerlässlichen Feuergarben und Windmaschinen im Einsatz. „Welcome residence“ battle für Basel das ESC-Zusatzmotto, denn in der Schweiz hat ja 1956 mit dem ersten „Grand Prix Eurovision de la Chanson“ ja alles angefangen.
Kommen wir zum Kurzdurchlauf aller 26 Lieder, so wie sie dann am Ende in der Wertung von rückwärts platziert wurden.
26. San Marino. Gabry Ponte: „Tutta l’Italia“
Es battle das dritte italienische Lied des Abends, die Kleinstadt an der Adria hat freilich gar keine eigene Sprache. Es tarantellat fröhlich los, dann wird es gleich langsamer. Die landestypische Barden-Reibeisenstimme singt von Spaghetti, Mona Lisa und Dolce far niente. Maskenmänner trällern, und ein angejahrter DJ steht am Mischpult. Der produzierte 1998 übrigens als Mitglied der Gruppe Eiffel 65 den Welthit „Blue (Da Ba Dee)“. Ganz hinten knete Michelangelos David scheinbar Kaugummi und es glitzert der Trevi-Brunnen; doch die Halle wartet vergeblich auf Anita Ekberg. Arg dünne Canzone-Pastasauce, fetzen- wie floskelhaft.
25. Island. VÆB: „Róa“
Der zweite Song mit einem Boot. Erst gibt es Gefiedel, dann Techno. Das hinter Ski-Brillen und silbrigen Overalls verstecke Brüderpaar Hálfdán Helgi und Matthías Davíð Matthíasson rudert mit drei Tänzern zu den Videosternen. Es gibt Paddel-Fitness als It-Choreographie von der Insel der Vulkane und Geysire. Lustig ist vor allem die Sprache. Doch sie alle werden leider schnell zu verlorenen Krümelchen in ihrer eigenen XXL-Pixelinszenierung im Minecraft-Look. Die Folklore kann den generischen Elektro-Rap auch nicht retten. Pennälerhumor aus dem hohen Norden.
24. Spanien. Melody: „Esa diva“
Ganz schlimm, das würde sich keine Drag Queen im Yumbo Center von Maspalomas mehr trauen. Schatten, Gaucho-Hut, Kastagnette, Flamenco-Rüschen, die aber sofort einem allzu engen Glitzereinteiler weichen müssen, bedienen die billigsten Iberico-Klischees. Die aber die Spanier selbst gefühlt jeden ESC-Jahrgang wieder aufwärmen. Als altes Showpferd sieht Melody (eigentlich: Melodía Ruiz Gutiérrez) aus wie die wiedergeborene Mayte von Baccara, leider keinen Tag jünger. Naja, sie hat auch ein bewegtes Karriere-Auf und -Ab hinter sich. Kein Wunder, dass diese Sägezahnstimme virtuelle Mauern zum Einsturz bringt, und die Tänzer müssen sie dann auch noch stemmen. Wenig Olé-Faktor, aber viel Trash-Wert. Aber eine echte Primadonna überlebt sicher auch den tiefen ESC-Fall.
23. Dänemark. Sissal: „Hallucination“
Im Kunstpelzmantel räkelt sich ein blondiertes Etwas zwischen lichtumzuckten Schleiern. Da wird eine bedeutsame Body-Positivity-Botschaft als Video-Tutorial für achtsames Aufwachen. Mehr Aufmerksamkeit sollte man freilich den vier Tänzern mit Schluppenärmeln schenken, denn die Mucke der im Halbfinale noch mit Kieksproblemen kämpfenden Sissal Johanna Nordberg Niclasen ist eher blümerant. Aber auf den Färöer-Inseln gehen die Popschlager-Uhren sicher noch ein wenig anders. Vor allem: hinterher. „I’m paranoid, slipping from actuality, your’re main me into one other fantasy“, säuselt sie. Doch auch solche längst durch KI ersetzbare Eighties-Plastiknummern sind beim ESC offenbar unausrottbar. Die skandinavische Bonnie Taylor, aber ohne Rauchstimme.
22. Luxemburg. Laura Thorn: „La poupée monte le son“
Sie hat sich so viel Mühe gegeben! Das sollte wohl eine complete retromäßige Feminismus-Auseinandersetzung mit der eben noch nicht selbstbestimmt empowerten, sondern von böser Männerhand ferngesteuerten Luxemburg-Gewinnlegende von 1965 werden. Damals trällerte sich France Gall für das Großherzogtum durch den von Serge Gainsbourg geschriebenen Welthit „Poupée De Cire, Poupée De Son“. Doch für ein heutiges Publikum ist so viel gelebte und kommentierte ESC-Geschichte in drei Minuten auf der raffiniert genutzten LED-Fläche dann wohl zu viel und zu subtle. Offenbachs Opern-Olympia hätte ihre Spielzeugfreude an dem quietschbunten Ding mit vielen Molltönen gehabt. Aber leider hat die nicht eben intonationssichere Sängerinnenstimme so gar keine Farben. Auch wenn sie sich am Ende puppenkleidlos der „nouvelle génération“ zuwendet.
21. Portugal. NAPA: „Deslocado“
Den aus Madeira dislozierten Mannen hätte wenigstens der Schlafmützen-Trostpreis gebührt. Da muss kein Sandmännchen mehr her. Endlich ein Wimmerlied. Europas große Melancholiker sind und bleiben eben einfach die in ihrer Saudade versauernden Portugiesen. Einförmig, erfrischend normalospießig, letztlich kaum zu glauben, dazu ein paar folkloristische Abirrungen. Wie kam das nur ins Finale, dieses klingend stille Wasser? „Men on the Couch“ hießen die fünf Spätstudierenden früher. Da hätten sie gern bleiben können, ganz weit weg im Atlantik. Heißt „Deslocado“ nicht auch „Völlig fehl am Platz“?
20. Armenien. Parg. „Survivor“
Ein Männer Pin-Up, oben ohne und ölverschmiert, ballert los. Er rennt über Laufband, ergibt und ergießt sich sportiv in seiner Dampfablassballade. Das ist ebenso simpel wie schamlos.
Pargev Vardanian, kurz Parg, zeigt Ganzkörpereinsatz, aber singen kann er auch – innerhalb sein eng gesetzten Grenzen. „Fitness for Freedom“ hätte das auch heißen können, aber trotzdem zeigt gerade die Kaukasusregion hier wenig Regionales. Und weil der Song so worldwide sein möchte, bleibt er dann eben doch klein und unsportlich. Und das, obwohl der Schwede Thomas G:son daran mitgeschrieben hat, dem schon für Loreens Siegertitel „Euphoria“ und „Tattoo“ verantwortlich battle.
19. Großbritannien. Remember Monday: „What The Hell Just Happened?“
Erstaunlich abgeschlagen diesmal, das Vereinigte Pop-Königreich. Doch das Dreipastellmädelhaus in Rosa, Hellblau und Kanariengelb stößt schon mit seinem selbstgemachten Pyjamaparty-Fetzenlook übel auf. Und dann hören sie sich so Second Hand als wären sie vom Tesco-Grabbeltisch gefallen. Die Melodie schleppt, und die Damen staksen zwischen einem gefallenen Kronleuchter herum wie in jeder zweiten inspirationslosen Operninszenierung. Das sind höchstens die Spice Girls „minus one“ für Arme. Dabei bekamen sie zuvor sogar noch einen Social-Media-Gruß aus dem Könighaus mit auf den – diesmal sehr erfolglosen – ESC-Weg! Hey Charlotte Steele, Holly-Anne Hull und Lauren Byrne, Ihr „Pop-Girlies mit ein bisschen Yeehaw“, geht bitte wieder heim nach Farnborough. Und versucht weniger nach Queen oder Meat Loaf zu riechen. Denn so seid Ihr leider schon am Dienstag vergessen. Selbst auf TikTok.
18. Norwegen. Kyle Alessandro. „Lighter“
Ein dünner, bleicher 19-Jähriger (der jüngste Teilnehmer) mit viel Feuer ruft nach dem dazugehörigen Zeug, weil er Liebeskummer hat. „Golden lady wearing ice, a coronary heart as darkish as night time“. Dann aber entzündete sich bei den Proben nur einer seiner Weisheitszähne. Hat er ihn verloren, wurde er gezogen? Wir wissen es nicht. Wäre aber interessanter gewesen, als drei Minuten skandinavische Lakonie. Weil auch dieser düster folklorebestäubte Popklops über gepflegte Langeweile nicht hinauskommt. Dann lieber eine alte Folge „Game of Thornes“, das gothict mehr und blutiger.
17. Malta. Miriana Conte. „Serving“
Ein tintenverschmierter Bibo, dann gibt es „Moulin Rouge“ im Provinz-Discolook; dazu ächzt der Beat. Die Rolling Stones dürfen Tantiemen für ihren Mund (ohne Zunge) fordern. Und das alles für ein wenig Zensur-Geplänkel, weil sich der ursprüngliche Titel „Kant“ („Singen“ auf Maltekisch und das einzige landesprachliche Wort neben dem gesungenen Englisch) auf den Ursprung der Welt in obszönem Englisch bezieht. Also der diesjährige erste ESC-Sex-Skandal-Song? Ach, hätte es wenigstens dafür gelangt! Doch die twerkende Dame aus der Spiegelkugel powackelt nur sehr müde mit ihrer Entourage vor gespreizten LED-Beinen. Als Anmachfaktor trotzdem höchsten unter ferner liefen. Dabei soll die Möchtegern-Bitch doch sogar queer sein. In Malta. Auch das ist ein Schicksal.
16. Litauen. Katarsis: „Tavo Akys“
Noch ein blonder, bleicher Bubi, der die Haare im Windkanal schön hat und zwischen Gitarren und Drums über den erschröcklichen Stand der Weltendinge klangt. So viel Baltenflair diesmal in Basel. Aber alle drei Ostseeanrainer waren diesmal ganz anders. Am schwächsten dabei der trostlos gottverlassene Post-Punk-Beitrag aus Vilnius. „Alternative Rock“ der umflorten Art, mit viel Wut im Klangbauch und reichlich juvenilem Pathos. Lukas Radzevičius klagt, hinten zerploppt ein LED-Haus. „Hab keine Angst, ich weine in deinen Träumen“, wimmert er über die Dame seines Herzens, von der er „Deine Augen“ besingt. Und die anderen Bandmitglieder scheinen ebenfalls übers Kuckucksnest geflogen.
15. Deutschland. Abor & Tynna: „Baller“
Startnummer 16, am Ende einen Platz vorgerückt. Mehr battle halt mit der aseptisch gesungenen Nummer dann doch nicht drin. So richtig hat sie eben nicht geballert, weder bei den Profis noch beim Publikum. Das auf Deutsch gesungene Stück hat zwar einen wiedererkennbaren Refrain, ist auch tanzbar, aber sonst passiert da halt zu wenig. Obwohl die Bühnenpräsentation seit dem deutschen Finale deutlich zugelegt hat. Doch das Geschwisterpaar aus Österreich sieht eben doch nur so semiprofessionell aus, wie es ist. Vor allem arrangiert battle das einfach zu nackig. Da konnte auch das große Raab-Aufpimpen nicht mehr helfen. Immerhin haben sich die Deutschen damit diesmal nicht blamiert. Aber es hakte halt an allen Ecken und Enden: „Baller“ hatte einerseits zu wenig Feeling, anderseits zu wenig Groove, battle nicht loopy und auch nicht sanftmütig genug. So saß man zwischen allen ESC-Stühlen und blieb verdient, aber auch nicht schlagerweltuntergangmäßig im Mittelfeld ebenso hängen wie kleben. Und selbst die berlinoid anmutende Techno-Retrolastigkeit des Neon-Bühnensettings konnte es nicht weiter pushen.
14. Polen. Justyna Steczkowska: „Gaja“
Die Ostblock-Cher Justyna Steczkowska, die vor 30 Jahren schon mal beim Grand Prix battle, sitzt in einer Schaukel vor Kunstgewölk und singt von Mutter Erde. Da ist körperlich was geboten, Geige spielt sie auch noch. Ein Feuervieh jagt über die Videowand, die Tanztruppe schwenkt Flügelchen. Aber für die Mutter der Drachen ist Justyna in ihrem fahrigen Fantasy-Dramolett dann doch zu wenig temperamentvoll, trotz der vielen, langgezogen gestemmtem Loreen-Töne, die diesmal besonders ESC-opportun sind. Wieder so ein Lied, das vieles anbietet und bei dauernden Styling-Wechsel nirgends landet. Also wird halt ein wenig geschrien und gestampft. Hat noch nie geschadet. Aber auch nicht wirklich genützt.
13. Lettland. Tautumeitas: „Bur man laimi“
„Überschütte mich mit Glück“, singen hier wieder seltsam folkloreselig (wir sind einmal mehr bei den esoterischen Balten!) sechs Sängerinnen hinter der Lamellenfransengardine. Es blubbert, und sie wiegen sich unter ihren plastikgeknüllten Heiligenscheintütchen. Ein fremdes Lied, das fremd bleibt, obwohl es irgendwie auch fasziniert. Kein Hit-Material, aber dann doch ESC-nominierbar, weil originell zusammengebaut. Und weil es vom Europa der Vielen, der Unterscheidbaren raunt. Und sicher wird man sich immer wieder an diese Nymphen im lettischen Nebelsee erinnern, denen plötzlich Marsupilamischwänze wachsen. Auch wenn diesmal Esther Williams als badende Singvenus fehlte.
12. Niederlande. Claude: „C’est la vie“
Eigentlich das harmloseste Liedchen, und dafür auf einem beachtlichen Platz gelandet. Ein sympathischer Flüchtling aus dem Kongo, der in Holland Aufnahme fand und jetzt seine Mutter besingt. So schön, so schlicht. Und so naiv. Und nicht nur im „La vie en rose“-Zitat möchte der Sänger Claude Kiambe viel lieber Édith Piaf sein. Auch wenn er dafür nicht die schneidende Stimme hat. Dafür schnieft und schluchzt er am Schluss so schön. Mehr ist nicht zu sagen.
11. Finnland. Erika Vikman: „Ich komme“
Die Finnen waren schon immer die ESC-Hallodris, nicht erst seit den Zombie-Gewinnern Lordi. Und so macht jetzt eine mittelalte Dame einen auf Sexgöttin, reitet rammsteinmäßig auf einem Goldständer (mit Mikro), aus dem das Goldpulver nur so spritzt. Und zum zweiten und erfolgreicheren Male wird Deutsch gesungen, allerdings nur im eindeutigen Refrain, der viele Kommentatoren-Zweideutigkeiten zur Folge hat („Ich komme!“). Beim ESC ziehen solche Herrenwitze nach wie vor, obwohl die Ledertante, die auch schon Italiens Pornopolitpflaume Cicciolina besungen hat, nur überdeutlich die Abtanznudel im Arbeiterbums mimt. Alles sehr gewollt. Auch der ESC muss sich eben mal unter Niveau amüsieren. Aber warum wird das so hoch gevotet? Neben der Pseudostriphow als Pipifax-Burlesque ist das musikalisch eine Luftnummer. Erika Vikman magazine zwar vom finnischen Tango kommen, aber die Phallusheldin tönt erstaunlich kurzatmig. Kein Höhepunkt.
10. Schweiz. Zoë Më: „Voyage“
Eine harmlos dudelnde Kinderballade, sehr gestrig. Aber die tränentreibende Großnummer, das sucht doch jeder ESC? Hier aber battle dann wohl doch die Verkaufe zu schlicht und der Inhalt zu dünn. Zudem fehlt der Sängerin der Céline-Dion-Gänsehauteffekt. Das ist brav geschluchzt, und schnell vergessen. Kein anderes Lied wurde diesmal beim Voting so hin und her geschleudert. Zoë Anina Kressler und ihr traniger Poesie-Pop ist wie die Schweiz: brav, ehrlich, handfest. Aber eben auch langweilig und leidenschaftslos. Im Halbfinale hat die Kamera bei ihrem ungeschnittenen Dauerschwenk ausgesetzt, die sie umkreist. Diesmal hat alles funktioniert und geklappt, und trotzdem ist die Schweiz hoch hinauf geflogen und vergleichsweise tief gefallen. Aber dafür müssen sie wenigstens nicht schon wieder nächstes Jahr die Veranstaltung bezahlen. Mehr Menschlichkeit, vor allem in den sozialen Medien, das unterschrieben wir gern. Aber nicht mit diesem Lied.
9. Ukraine. Ziferblat: „Bird Of Pray“
Bei der Ukraine gilt immer noch der aktuell weltgeschichtliche Sympathie-Faktor. Denn dieses Lied ist auch in der Präsentation wohl kaum die Platzierung auf der Neun wert. Nicht nur ein Brüder-, nein ein Zwillingspaar ist diese Band mit dem deutschen Titel, der genau heißt, was er scheint. Daniel und Valentyn Leshchynskyi sind zwei von drei von „Ziferblat“. Mal rockig, mal verträumt beschwört hier ein weiterer blasser Blondschopf, der in seinem roten Schlabberanzug etwas Mattel-Männchen-Haftes hat, aber auch als „The-King“-Impersonator durchgehen könnte, Rock und Träumerei. Doch zu viel Eiapopei-LED-Fantasy wird schnell klebrig. Zumal die Musik dem nicht entgegenzusetzen hat. Doch der Vogel ist geflogen, und die wählende Diaspora hat mitgeholfen.
8. Albanien. Shkodra Elektronike: „Zjerm“
Folklorista und Feuer als Antikriegslied, wo Diesel nach Flieder riechen soll. Zupfgeigenhansl an der landestypischen Langhalslaute Çiftelia. Zwei in Rot und Schwarz, sie pathetisch als Drama-Queen im asymmetrischen Flammenpailettenkleid, wie die Mitternachtsüberraschung aus dem Tirana-Puff. Dazu labert der finstere Gesell hinter der Schlagkiste, bis das abstrakte LED-Muster Feuerpupse hustet. Oftmals gesehen, immer wieder gruselschön. Auch der rustikale Balkanpophit mit viel Elektrowums ist eben nicht totzukriegen. Dabei gastarbeitern Kolë Laca und Beatriçe Gjergji längst in Italien in der Alternative-Rockband Il Teatro degli Orrori. Und dann ist es doch wieder so schräg, dass es schon interessant ist. Wird da einfach falsch gesungen oder gehen uns albanische Harmonien eben einfach nicht ins Ohr? Trotzdem: Die ESC-Crowd mochte es offenbar.
7. Frankreich. Louane: „Maman“
Auch die Grande Nation schickt gefühlt jedes Jahr immer denselben, gefühligen Balladenact. Diesmal ist es noch ein Mutter-Lied, und sogar eines mit Déjà-vu. Denn Louane, selbst inzwischen Mutter, hat schon 2015 ihre verstorbene „Maman“ besungen, aber das kann man ja nicht zu oft machen. Jetzt wühlt sie im Korksand der Zeit, alles sehr Fronkraisch-Chanson-typisch. Die Geige schluchzt, die Melodie schwingt sich auf, der Sand rieselt nicht mehr, er spritzt und schießt aus allen Rohren. Irgendwie wirkt es trotzdem verstopft bis hin zum kitschigen Kinderquietscher. Man hat halt eine Lied-Tradition, die wird verteidigt und komischerweise brav gewählt, so wie meist auch bei Italien. Obwohl Frankreich diesmal ohne Raffinesse und Extravaganz auskommt. Aber das tut „Emily in Paris“ (Netflix) ja auch. Und alle gucken sie.
6. Griechenland. Klavdia: „Asteromata“
Auch diesmal bei den vorhersehbar braven, aber erfolgreichen Interpreten. Weil Lied-Substanz und Stimmenwucht eben immer ESC-tauglich sind. Und wenn dann noch eine Nana-Mouskouri-Brille in XXL auf der hübschen Nase sitzt, die unter einem Tragödinnen-Vibrato bebt, dann ist das so Hellas-typisch wie Feta und Oliven. Da darf natürlich auch das Pixel-Feuer nicht fehlen. Das Kleid ist erst schwarz, dann weiß. Klavdia heißt eigentlich Claudia Papadopoulou, ihr Lied beweint das Schicksal der Pontosgriechen, die Anfang des 20. Jahrhunderts ihre Heimat verlassen mussten, so wie auch Klavdias Familie. Gefühle, Authentizität – ESC, was willst du mehr. Die Griechen sind Meister der Theatralik, denn sie haben sie schließlich erfunden. Die Schlagershow kam dann später.
5. Italien. Lucio Corsi. „Volevo essere un duro“
Der Junge mit der (echt gespielten) Mundharmonika, während Klavier und Gitarre stumm bleiben. Auch Italien kann sich jedes ESC-Jahr wieder die gleichen Canzone-Klischees leisten. Den Papagallos mit dem seelenvollen Blick verzeiht man sie. Weil der ein wenig an David Bowie gemahnende Glamrocker Lucio Corsi unter seinem Strubbelhaar wie ein Hündchen schaut, konnte er diesmal auch als nur Zweiter in San Remo nach Basel weiterreisen: Der Erstplatzierte wollte nicht. Ein harter Typ will er sein, und ist doch nur ein Barde mit gebrochenem Herzen. Italia, ti amo.
4. Schweden. KAJ: „Bara bada bastu“
Für das Siegertreppchen hat es nicht gelangt, aber die heiß favorisierten Schweden aus der finnischen Enklave Österbotten können auch bei dieser Gewinntemperatur entspannt schwitzen. Wurst und Akkordeon, Holzfäller, Stämme und Tannen, braune Anzüge und das passendes Saunafeuerchen liefern eine liebevoll hygge nordländische Bühnenschau. Und darin geht die Partypost ab. Das flotte Lied wird seinen Weg machen und die ESC-Geschichte der Nichtgewinner mitschreiben. Hätten die Schweden aber gewonnen, wäre es der achte Sieg und damit ESC-Rekord gewesen.
3. Estland. Tommy Cash: Espresso Macchiato“
Die große Überraschung. Von Italien angefeindet wegen seines italienischen Ballaballa-Textes, macht sich der poperfahrene Tomas Tammemets, einst als postsowjetischer Rapper gehandelt, einen höheren ESC-Witz daraus. Das magazine blöd sein, ist aber in sich stimmig, musikalisch, optisch und als schräge Performance vor seinem „Winners Café“. Ein baltischer Guildo Horn sozusagen, nur mit mehr Weltläufigkeit. „Life is like spaghetti / It’s arduous till you make it“, kann sogar mit surrealer Schärfe gelesen werden. Und dazu groovt der Mann ganz entspannt und selbstsicher. Und dann verbiegt sich sogar noch das Flugzeug im Bühnen-Hintergrund. Ein Touristen-Ulk von der Ostsee. Da wächst Europa doch zusammen.
2. Israel. Yuval Raphael: „New Day Will Rise“
Eine Überlebende singt sich frei. Die Anspannung battle ihr vorher und nachher im Gesicht abzulesen. Aber sie trifft jeden Ton fehlerfrei, stemmt die Powerballade auf der Swarovski-Spirale vor dem Lichterdom. Bis am Ende das Freudenfeuerwerk leuchtet. Der einzige Pathos-Moment des ESC, der hier gefühlt die Baseler Halle hinter sich ließ, als alles für einen Moment mehr als nur ein Musikwettbewerb wurde. So wie 2022 bei den Ukrainern. Mit leisem Anfang und großer Steigerung, das ist die DNA, aus der ESC-Erfolge gebaut werden. Hier hat ein Lied versöhnt, vielleicht nur einen Abend lang. Aber auch dann hat es einen Zweck erfüllt. Auf Englisch, Französisch und in Hebräisch.
1. Österreich. JJ: „Wasted Love“
Seltsamerweise der landesuntypischste Song in einem diesmal wieder sehr regional schmeckbaren Wettbewerb in vielen Original-Landesprachen. Doch Johannes JJ Piesch hat nicht nur eine philippinische Mutter, er pflegt als Countertenor auch noch den sehr besonderen Kunstgesang. Den er hier, vollendet stilisiert, als große Ballade mit gleißenden Spitzentönen ausspielt. Das battle von Anfang an ein großer Favorit, aber auch die Schwarzweiß-Optik, das Boot, der Wind, die scharfen Schnitte haben das Lied beflügelt. Österreich sehr souverän und authentisch worldwide, auch wenn ein Hauch von Plastikpop bleibt. Executive Producer Pele Loriano battle übrigens auch schon bei Nemo und „The Code“ dabei. Es wird spannend zu verfolgen, wie sich dieser Sänger weiterentwickelt. Denn auch Conchita hat insgesamt eine erstaunliche Wandlung vollzogen. Doch mit „Wasted Love“ wurde eine starke Stimme belohnt. Und was kann man Besseres über einen Gesangswettbewerb sagen?
mit krott
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