Wörter, die uns ins Leben mitnehmen | EUROtoday
Inge Müllers Gedichte und die Suche nach ihnen. Das ist jetzt dreißig Jahre her. Der Ausgangspunkt: Heiner Müller in der Muskauer Straße, Berlin, Kreuzberg. Sein Kopfschütteln unten in der Hauskneipe, sein Kopfschütteln oben in seiner Bibliothek. Von Inge Müllers Nachlass warfare de facto nichts da. Nur ihre Texte für Kinder in zwei schmuddeligen Leinenbeuteln, ein paar Fragmente, biographische Splitter. Und ihre Gedichte?
Inge Müller, geborene Meyer, Jahrgang 1925. Eine Kindheit in Berlin-Lichtenberg. Das ist Knorr-Bremse AG, das ist Gurken Emma, Kiosk-Martha, Wolletreters „Holz und Kohlen“. Das sind Pferdewagen und das Klingeln des Eismanns. Das ist Ostkreuz ab 1933. Da ist sie acht. Vierzehn ist sie, als der Krieg beginnt. Anfang 1945 kommt ihr Stellungsbefehl in Hitlers weibliches Aufgebot, in die Armee der „tapferen, kleinen Soldatenfrauen“. Es sind die „Blitzmädchen“, die keine Waffen tragen dürfen, sondern sich im großen Endwahn allein mit Panzerfäusten zu verteidigen haben. Die Neunzehnjährige desertiert. Was missglückt. Daraufhin wird sie in die Flakbatterie 253 überstellt. Acht Geschütze, 230 Mann für die letzte Schlacht um die Reichshauptstadt. Berlin und seine Rundumverteidigung: drei Sperrringe um den Kern, den Führerbunker. Ein Reduit, wie für das Schlussstück verplombt.
Verschüttet und gerettet
Inge Müller am Geschütz. Alarm im Morgengrauen, grüne Leuchtkugeln, Laden, beim Feuern die Augen schließen, neben ihr tote Körper im Rauch. Später der zähe Häuser-Rückzug Richtung Pankow, Prenzlauer Berg. Die versprengten Reste ihrer Einheit im Keller des Hauses Schwedter Straße 7. Es ist der 29. oder 30. April, vier Uhr morgens, als sie losgeschickt wird, Wasser zu holen. Im Ruinenmeer fällt ein durch Bomben beschädigtes Haus über ihr zusammen. Das brandige Geräusch der Sturzmauern, die Wucht der Schuttmassen, der eingesackte Krieg, gerutscht auf den kleinsten Nenner, ihren Körper. Sie lebt. Eingeschlossen in einem Hohlraum. Hallo? In ihrer Nähe ein Hund. Drei Tage und drei Nächte liegt sie mit ihm im Zwischenreich unter der Stadt. Bis eine Hand hart nach ihr greift. Zwei Männer, die sie rausziehen, unterhaken und auf das schieben, was mal Schwedter Straße gewesen warfare. Es ist der 1. oder 2. Mai 1945. Am 2. Mai, morgens um sechs Uhr, kapituliert Berlin.
Der umgefallene Himmel, die eingestürzte Welt. Inge Müllers erhoffter Neuanfang und der Gordische Knoten des Nachkriegs. Auf den Fotos der Jahre eine gluthäutige, junge Frau: als Berliner Trümmerfrau, beim Tanzen, Akkordeon spielend, rauchend, mit Sohn, mit erstem Mann, mit dem zweiten, auf der Wiese liegend und schreibend. Ihr Blick ist gelöst, voller Erwartung, entschieden. Der Anfang der jungen DDR und der Glaube an das bessere Deutschland, das Aufatmen, das Provisorische, aber auch die Angstmanie; das laute Hurra, die Lobgesänge, der Jubel, aber auch der Stalin-Terror. Die junge Frau auf der Wiese, der Stift im Mund und ihre ersten Texte: Kinderreime, Kinderrätsel, Kinderrevuen, in DDR-patriotisch getrimmtem Moralton. Harmlos? Zu harmlos? Ein Interregnum, vielleicht die Hoffnung, den Schuttmoment, den Riss im Vergessenskrieg der neuen Zeit überlaufen zu können.
Schreiben, Leben, Lieben?
1953 die Begegnung mit Heiner Müller. Es warfare Liebe, sagt sie. Ich kam zu dir, sagt er. Was ist es, was sie beide füreinander unausweichlich macht? Sicher ist, sie haben sich nötig, sie müssen schreiben, sie brauchen einen Ort. Er siedelt zu ihr ins märkische Lehnitz bei Sachsenhausen über, in das Haus, in dem sie mit Mann, Sohn, Hund und vier Katzen lebt. Schreiben, Liebe, Leben? Sie: „Da ist die Brücke / Und ich seh dich gehen / Über die Planken aus Holz.“ Er: „Ins Wasser blickend sah ich / Deine Augen, die mich suchten. Da / Fand ich mich.“
Die Handschriften von Inge und Heiner Müller aus ihrer Anfangszeit sind fließend, weich und kaum zu unterscheiden. Als entstünden ihre Ideen, Entwürfe, Texte in einem Echoraum, als gelte die Idee vom Künstlerpaar als Präfigur der neuen Gesellschaft. Wenn Heiner Müller nach Berlin fährt, um Rezensionsaufträge an Land zu ziehen, liegt für sie ein Zettel im Flur, natürlich im Vers: „Liebe Tuppa, / ich hab dich lieb / sei artig / Preiselbeeren wenns gibt / deliver ich mit.“ Ihre Antwort: „Für Tuppa / Oft kommt der Wind. Noch immer schwanken draußen / Die Schatten wenn die Sonne untergeht. / Ich seh sie nicht mehr seit in meinem Zimmer / Der Wind ist, der vom See herüberweht.“
Was der Arbeiter erzählt
Dialog, Echo, poetischer Kokon. Das Gleichheitspostulat einer Schreibliebe. Mit ihm ziehen die beiden – ganz im Duktus der Zeit – im Sommer 1957 für eine Rundfunkrecherche in die Produktion, auf die Großbaustelle „Schwarze Pumpe“. Die Erzählung des Arbeiters Heinz B.: „Meine Mutter ist im Kohlenpott erfroren, 47 im Winter, weil ich wegen Kohlendiebstahl saß und keine Kohlen klauen konnte.“ Die Erzählung des Arbeiters Franz Okay.: „Ich bin Bauarbeiter, rot seit 1918, seit 46 nicht mehr so. Ich habe mit der Wismut das Erzgebirge auf den Kopf gestellt, acht Stunden täglich, in Schächten ohne Sicherung.“ Brechts Keuner-Geschichten in DDR-real mit jeder Menge sorgsam gehüteter Tabus: Nazivergangenheiten, Gewalt, das Lügen der Funktionäre, das Ding mit der Emanzipation. In der Szene „Fundamente“ hält eine Frauenfigur den Männern den Tod einer Arbeitskollegin vor: „Wir arbeiten wie ihr. Das ist auch ein Fundament. Warum vermauert ihr uns nicht gleich ins Fundament.“
Schuttberge, Abraumhalden, Bulldozer, die Galerie der Besten. Inge Müller führt die Interviews und macht die Fotos, er trägt das Material zusammen. Die Müller’sche Textmaschine ist am Laufen. Auf der Großbaustelle stößt Inge Müller auch auf sich: auf die eingemauerte, verschüttete Frau. Sie wird ihr Gravitationskern, das Schreibzentrum. Als das Paar die gigantische Produktionsbrache nach Wochen verlässt, geht ihr Körper in Totalstreik. Zwei Monate Berliner Hedwigkrankenhaus. „Ich kenne deine Griffe, Schmerz“, hält sie fest. Doch keine Diagnose, nichts. „Mein Gedächtnis macht mir immer mehr und immer ernsthaftere Sorgen. Liegt es an der Krankheit und ist additionally zu heilen? Oder ist es Schlimmeres?“ Die Grausamkeit, dass man mit Bestimmtheit nichts sagen kann. Dass sie nicht weiß, wann es aufhört?
Das Projekt des schreibenden Paares
Also Leben und Schrift, additionally weiter Textwüsten anlegen. Konzepte, Notizen, Entwürfe, Szenenfolgen. Das sieht nach ausschweifender Operation aus: die gemeinsamen Stücke „Die Korrektur“ und „Der Lohndrücker“, die „Weiberbrigade“ für den Rundfunk, Filmprojekte, Dramenbearbeitungen, ihr Romanfragment „Jona“, ihre Gedichte. Heiner Müller wird sich sukzessive aus den weichen Textzeichen des symbiotischen Anfangs herauskrakeln. Seine Handschrift wird kantiger, härter, unlesbarer. Heißt das Distanz, Differenz? Und sie?
Inge Müllers Schriftexegese ist von verblüffender Beständigkeit. Weich, leicht, hell. Nicht aber der Umgang mit ihren Wörtern. Als schicke sie die in die große Schlacht, werden sie zermeißelt, zerkämpft, die Blätter zerstoßen, die Verse ausgestrichen, mitunter bis zur völligen Löschung. Soll das Eingefrorene ausradiert, weggekratzt werden? Kommt erst nach dem Löschakt der eigentliche Anfang? Das Zermahlene, die Leere und das Danach – heißt das dann Gedächtnis?
Das Projekt Schreibpaar. Man solle sich da besser nicht zu viele Illusionen machen, erklärt Inge Müller auf einmal in einem Interview aus dem Jahr 1960: „Über die schriftstellerische Zuarbeit, wie sie auch zwischen Heiner Müller und mir besteht, gibt es eigenartige Vorstellungen.“ Man nehme bisweilen an, sie sähe das, was er geschrieben habe, nur noch einmal durch. Dafür betrachte er es dann als seine Kavalierspflicht, im Titel auch ihren Namen zu nennen. Das klingt nicht mehr nach romantischem Paar.
Ist es auch nicht. Sie: „Ich kann mir vorstellen, dass Heiner mich tötet, nicht, dass er mich nicht liebt.“ Er: „Das Herz ist ein geräumiger Friedhof.“ Sie: „Er weiß: Das Trachten des Menschenherzen ist böse von Jugend an. Das wird alles sein, was er weiß, und wer nur das weiß, ist dumm wie die Nacht, und wäre ihm besser, er wäre nie geboren.“ Er: „Only girls bleed black widow.“ Das ist keine Drift, das ist Leben und soll Bühne sein, Stoff, Material, Zerstörung, um das Drama freizusetzen. Beide sind harte Arbeiter. Heiner Müller schiebt Berge an Sprachgeröll durch Textlandschaften, wuchtet Mythen, hat einen Faible für Masken, sucht schreibend „die konkrete Wahrnehmung zugunsten einer Idee“ auszulöschen, wie er immer wieder betont. „Das Tragische ist etwas sehr Vitales: Ich sehe einen Menschen untergehen, und das gibt mir Kraft.“
Das Windschiefe in den Blick bekommen
Inge Müller muss erneut ins Krankenhaus. 1958 beginnen ihre Suizidversuche. Die Attacken gegen sich selbst verstellen regelmäßig den Blick darauf, wie konzeptionell sie ihr Schreibfeld auslotet. Ihr Stoff? Wie eine Kriegspsyche wieder zivil wird, werden kann. Wie sie auf den Riss verweist und sich dennoch aus dem Diktaturraum herausschreibt, wie das Malträtierte in die Wörter zurückkehrt, um das Einzelne, Verlorene, Windschiefe in den Blick zu bekommen. Die erst 34 Jahre alte Dramatikerin hat bereits viele Preise erhalten. Sie weiß, was ein handelnder Vers auf der Bühne ist. Ihre Gedichte sind Erzählungen darüber, auf welche Weise sie das Theater nutzt, um ihren Kriegsstoff in die Poesie zu heben. Jedes Gedicht ein Minidrama. Ein Detoniertes, das nicht bricht. In dem das Zeitdrama rückwärts läuft und der Riss unübergehbar wird.
Texte, die nach vorn und nach hinten laufen. Die nach Geschichte graben und zugleich Zuversicht wollen. Das ist nicht im Sinne der ausgerufenen Zeit, die allein nach vorn stürmen soll. 1958 ist auch das Jahr, in dem die „Nationale Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald“ eröffnet wird. Konkrete Erinnerung, historische Wahrheit versus ideologisches Tamtam, das den kollektiven Identitätshort der DDR begründen soll. Ein verdeckt laufender politischer Kulissenumbau.
Da Inge und Heiner Müller den Auftrag für den Text zum Dokumentarfilm „Buchenwald“ erhalten, wissen sie mehr über diese Vorgänge als die DDR-Öffentlichkeit. Hilft das? Überdies ist dauernd von „sozialistischer Kulturrevolution“ die Rede, mit dem „Arbeiterleser“ als Haupthelden. Spätestens da ist Inge Müller draußen. Das Volkspädagogische, das Kollektive, das ideologische Voodoo-Prinzip ist nicht mehr ihr Ding. „Hinter der Pappfassade / Ein Nichts das wächst“, notiert sie.
Sie will sich nicht aufgeben
Leben, Liebe, Schreiben. Seit dem Mauerbau und den Kontroversen um beider Texte, vor allem um das Verbot des Stücks „Die Umsiedlerin“ 1961, wird es noch prekärer. Heiner Müller, mit Arbeitsverbot belegt, taucht vorerst ab, in die Welt der Mythen. Der Druck macht seine Texte groß. Die Sechzigerjahre werden mit Stücken wie „Philoktet“, „Herakles 5“ oder „Ödipus Tyrann“ zu seinen produktivsten. Inge Müllers Gedichte, die nach 1961 entstehen, werden basaler, direkter, knapper, intimer. Es braucht nichts hübsch zu werden, kann ungelenk, bloß daherkommen. Ein Camouflieren von Gesellschaft kommt in ihren Texten nicht vor. Doch je stabiler ihr poetisches Ich wird, umso größer die Einsamkeit. In ihr wartet der Schuttmoment auf sie. „Gelernt hab ich / Was hab ich gelernt / Was nicht passt, wird entfernt / Was entfernt wird passt / Ich bitte mich zu entfernen.“
Frühjahr 1966. Vielleicht denkt Inge Müller über den Schmerz im Hedwigkrankenhaus von vor acht Jahren nach und an ihre Entschlossenheit, der Krankheit ihre Gier nach Leben entgegenzuhalten. „Selbstmörder: die, die sich nicht aufgeben wollen“, schreibt sie in ihr Tagebuch. Nicht aufgeben wollen, aber auch nicht wissen, wann es aufhört. Es ist keine Demontage, keine Kapitulation, vielleicht ist es der unausgesetzte Schuttmoment. Am 1. Juni 1966 ist Inge Müller mit 41 Jahren tot. Ein Tod durch Gas.
Werkausgabe erst nach Heiner Müllers Tod
Öffentlich ist es ein Tod, nach innen der „Selbstmord einer Kulturschaffenden“. Etwas, das es nicht zu geben hat. „Im Kontrollbereich wird angenommen, dass der Selbstmord der Inge Müller als Protest zu werten ist, der gegen die Kulturpolitik der Partei gerichtet sein soll“, weiß die Staatssicherheit und gibt damit den nächsten Verschüttmoment von Inge Müller vor. Dabei bleibt es nicht. Ihre Texte bar aller Moden sind zu intensiv, zu stark, zu solitär.
Noch zu DDR-Zeiten erscheint 1985 ein erster schmaler, noch immer zensierter Band Gedichte im Aufbau Verlag, 1996 die erste Textausgabe nach dem Mauerfall. Die Rezeption im neu vereinten Land macht Inge Müller „zu einer der wichtigsten Nachkriegsdichterinnen“. Im Windschatten dieser Herausgabe und unmittelbar nach dem Tod von Heiner Müller tauchen auch Inge Müllers Gedichte wieder auf. Sie liegen seitdem akribisch verzeichnet in der Akademie der Künste Berlin.
Inge Müllers Gedichte haben heute eine neue Dringlichkeit. Als wären ihre Texte mit den Jahren noch rauer, bloßer, aschiger geworden. Weil die Welt härter, explosiver geworden ist? Weil wir uns anders fragen, wie eine Kriegspsyche nach der Katastrophe ins Zivile zurückkommt? Weil wir wieder Wörter brauchen, die uns ins Leben mitnehmen? „Lange genug warfare ich ein totes Spiegelbild / Von allen angelächelt angespien / Von allen und für alle jetzt pink ich.“
Ines Geipel ist Schriftstellerin. 1996 gab sie den Band „Irgendwo; noch einmal möcht ich sehn“ mit Texten von Inge Müller heraus. 2002 erschien ihre Biographie Inge Müllers: „Dann fiel auf einmal der Himmel um.“
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