Hintergrund: Warum in Frankreich so viel gestreikt wird

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Hintergrund

Stand: 31.01.2023 17:46 Uhr

Frankreich streikt und streikt – mal wieder. Was in Deutschland für Verwunderung sorgt, hat historische Gründe. Denn das Streikrecht hat in Frankreich einen besonderen Stellenwert.

Von Carolin Dylla, ARD-Studio Paris

Rémi Bourguignon muss schmunzeln, wenn man ihn bittet zu erklären, warum in Frankreich so viel und geradezu leidenschaftlich gestreikt wird. Bourguignon ist Professor an der Universität Paris-Est-Créteil und Spezialist für soziale Bewegungen und Gewerkschaften.

Carolin Dylla ARD-Studio Paris

Es gebe in Frankreich eine historische Besonderheit, erläutert Bourguignon: Das Streikrecht sei schon 20 Jahre vor der gesetzlichen Anerkennung von Gewerkschaften garantiert gewesen. “Das Streikrecht war zuerst da, dann kamen die Gewerkschaften. In unserer Kultur kommt also erst der Konflikt – und dann die Verhandlungen”, führt der Professor aus.

Selbst Beamte können streiken

Das Streikrecht gibt es in Frankreich seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde es sogar in die Präambel der damaligen Verfassung aufgenommen und hat bis heute Verfassungsrang.

In Frankreich darf grundsätzlich jede und jeder streiken. Mit wenigen Ausnahmen – wie etwa Polizisten und Militärs – können selbst Beamte streiken. Dass Staatsbedienstete in Deutschland nicht streiken dürfen, verwundert in Frankreich viele. Unter anderem Catherine da Silva. Sie ist Lehrerin und war beim landesweiten Streik- und Aktionstag am 19. Januar dabei.

“Es überrascht mich sehr, das zu hören. Wir sind doch Staatsbedienstete, die Kindern beibringen sollen, ihre Bürgerrechte zu leben”, sagt da Silva. Dass ihre deutschen Kollegen diese Bürgerrechte nicht hätten, findet sie verwunderlich.

Unterschiede zu deutschem Streikrecht

Wenn in Frankreich mindestens zwei Beschäftigte ihre Arbeit niederlegen, um zusammen Forderungen gegenüber dem Arbeitgeber durchzusetzen, so gilt das als Streik. In Deutschland dürfen dagegen nur die Gewerkschaften zum Streik aufrufen.

Außerdem sind Streiks in Deutschland nur zulässig, wenn es um Forderungen geht, die sich im Rahmen eines Tarifvertrages regeln lassen. Für die Dauer eines Tarifvertrags gilt zudem die so genannte Friedenspflicht. Nach dem Ende des Tarifvertrags müssen die Sozialpartner erst verhandeln, bevor von Arbeitskampf überhaupt die Rede sein kann.

Bezug zur Arbeit oder zur Politik?

Auch in Frankreich müssen die Forderungen der Streikenden mit ihrer Arbeit zu tun haben, also der Bezahlung, den Arbeitsbedingungen oder dem Schutz von Jobs. Rein politische Streiks sind verboten – und das macht die Sache gerade jetzt kompliziert.

Denn bei den derzeitigen Streiks trügen die Arbeitgeber die finanziellen Lasten, obwohl es den Streikenden um die politische Rentenreform ginge – mit der die Arbeitgeber an sich nichts zu tun hätten, meint Bourguignon.

Die Arbeitgeber sind gewissermaßen die Leidtragenden für etwas, auf das sie keinen direkten Einfluss haben. Hier stoßen wir an die Grenzen des Streikrechts. Und man kann sich schon fragen, wie rechtmäßig gerade dieser Streik ist.

Doch man könne auch anders argumentieren, gibt Bourguignon zu bedenken, schließlich habe Frankreich eine recht offene Definition von Streik. Aktuell gehe es eindeutig um Arbeit, darum, dass Menschen länger arbeiten sollen – und damit befinde man sich in einer Grauzone.

Mehrheit unterstützt Streikende

Nach Einschätzung von Professor Bourguignon wirft die Rentenreform außerdem eine viel größere, allgemeinere Frage auf: die nach sozialer Gerechtigkeit. Das sei mit ein Grund, warum die Proteste so heftig ausfallen und warum die Gewerkschaften geschlossen dazu aufrufen. Zumindest aktuell noch.

Noch unterstützt auch die Mehrheit der Französinnen und Franzosen die Proteste gegen den Renteneintritt mit 64. Laut einer Umfrage im Auftrag des Fernsehsenders BFMTV hätten 57 Prozent der Befragten sogar Verständnis dafür, sollten die Proteste das öffentliche Leben weitgehend lahmlegen.

Source: tagesschau.de