Erdbeben fordern mehr als 3800 Todesopfer – Tausende Menschen bei drohendem Schneesturm obdachlos
Nach der Erdbeben-Katastrophe in Syrien und der Türkei ist die Zahl der Todesopfer auf mehr als 3800 gestiegen. In der Türkei seien mindestens 2379 Menschen getötet worden, sagte Vize-Präsident Fuat Oktay in der Nacht zum Dienstag. Fast 14.500 Menschen seien verletzt worden. In Syrien meldeten Regierung und Rettungskräfte mindestens 1444 Todesopfer und mehr als 3500 Verletzte.
Das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe war zunächst nicht absehbar, immer noch wurden zahlreiche Menschen unter Trümmern vermisst. Mehr als 15.000 Menschen wurden nach bisherigen Informationen in der Türkei und in Syrien verletzt. Die türkische Katastrophenschutzbehörde Afad warnte unterdessen vor weiteren Nachbeben.
Im Katastrophengebiet herrschen Temperaturen um den Gefrierpunkt. Tausende Menschen sind nach Angaben von Hilfsorganisationen obdachlos geworden – und das bei kaltem Wetter. Ein drohender Schneesturm könnte die Situation in den Erdbebengebieten nach Einschätzung der Hilfsorganisation Care noch deutlich verschärfen. Viele Straßen seien nicht passierbar. Die Welthungerhilfe rechnet mit langen Aufräumarbeiten. In betroffenen türkischen Provinzen sind auch Millionen Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien.
Erdogan ordnet siebentägige Staatstrauer an
Ein Vertreter der Rettungsorganisation forderte Menschen in den betroffenen Regionen dazu auf, von beschädigten Gebäuden fernzubleiben, wie der Sender CNN Türk berichtete. Mehr als 5600 Gebäude seien bei dem Beben bereits eingestürzt. Auch in Syrien stürzten mehr als 200 Häuser ein.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan sprach vom schwersten Beben seit 1939. In dem betroffenen Bereich habe es seit etwa 900 Jahren kein so großes Beben mehr gegeben, sagte die Geologin Prof. Charlotte Krawczyk vom Geoforschungszentrum Potsdam der ARD. Ob und wann weitere große Beben folgen, könne nicht vorhergesagt werden.
Der türkische Staatspräsident Erdogan hat eine siebentägige Staatstrauer angeordnet. Laut einem am Montagabend veröffentlichten Dekret werden alle Flaggen bis Sonntagabend auf Halbmast gesetzt.
Dem türkischen Katastrophendienst zufolge hatte das Hauptbeben am Morgen mit Epizentrum im südtürkischen Kahramanmaras eine Stärke von 7,7. Mittags erschütterte ein Beben der Stärke 7,5 dieselbe Region, wie in Istanbul die Erdbebenwarte Kandilli meldete. Afad verzeichnete insgesamt 185 Nachbeben.
Im türkischen Fernsehen waren Bilder von Helfern zu sehen, die teilweise mit bloßen Händen in den Trümmern nach Verschütteten suchten. Erdogan sprach vom schwersten Beben seit 1939.
In Syrien stürzten laut der staatlichen Nachrichtenagentur Sana in zahlreichen Städten Gebäude ein. Fotos zeigten, wie Rettungsteams Menschen auf Tragbahren wegtrugen. „Wir reagieren mit allem, was wir können, um diejenigen zu retten, die unter den Trümmern liegen“, sagte der Leiter der Weißhelme, Raed Al Saleh. „Die Lage ist sehr tragisch“, sagte ein Mitglied der Gruppe.
Türkei bittet um internationale Hilfe
In der Türkei stürzten Tausende Gebäude ein, das Beben mit Hunderten Toten sei in zehn Provinzen zu spüren gewesen, sagte Vizepräsident Fuat Oktay. Unter den eingestürzten Gebäuden sei neben Wohnhäusern auch ein Krankenhaus in der Stadt Iskenderun. In Gaziantep stürzte der Zeitung „Hürriyet“ zufolge eine historische Burg ein. Die Flughäfen in Hatay, Kahramanmaras und Gaziantep blieben vorerst für den zivilen Verkehr geschlossen, sagte Vizepräsident Oktay. Der Sender CNN Türk zeigte Bilder von einem tiefen Riss in einer Landebahn am Flughafen Hatay.
Hilfsorganisationen und Gemeinden in den betroffenen Regionen riefen neben Blutspenden auch zu Sachspenden auf und baten etwa um Decken, Heizer, Winterkleidung, Essenspakete und Babynahrung. Rettungsteams aus dem ganzen Land wurden laut Innenministerium zusammengezogen. Man habe zudem die Alarmstufe vier ausgerufen und damit auch um internationale Hilfe gebeten.
Vielerorts werden weiterhin etliche Menschen unter dem Schutt vermutet. Im Staatssender TRT war zu sehen, wie Menschen bei Schnee in der Stadt Iskenderun aus Trümmern befreit wurden. Auch aus den Städten Gaziantep, Sanliurfa, Osmaniye, Diyarbakir und Adana wurden Bilder gezeigt, auf denen Menschen teilweise in Decken gehüllt abtransportiert wurden.
Griechenland erklärte sich trotz der schweren Spannungen mit der Türkei bereit, Rettungsmannschaften in das Erdbebengebiet im Nachbarland zu schicken. „Griechenland wird sofort helfen“, erklärte der griechische Regierungschef Kyriakos Mitsotakis. Laut Erdogan boten 45 Länder inzwischen ihre Hilfe an, darunter auch die Ukraine, Russland, Finnland, Schweden und Israel. Russland bereitet nach Angaben des Katastrophenschutzministeriums die Entsendung von 100 Such- und Rettungskräften in die Türkei und nach Syrien vor. Sie sollten mit zwei Transportmaschinen vom Typ Iljuschin Il-76 in die Türkei gebracht werden.
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) sagten den betroffenen Gebieten Hilfe zu. „Deutschland wird selbstverständlich Hilfe schicken“, schrieb Scholz auf Twitter und zeigte sich bestürzt angesichts der Nachrichten aus den betroffenen Gebieten. „Die Zahl der Todesopfer steigt immer weiter. Wir trauern mit den Angehörigen und bangen mit den Verschütteten.“
Die EU koordiniert die europäische Hilfe. „Nach dem Erdbeben in der Türkei heute Morgen haben wir den EU-Zivilschutzmechanismus aktiviert“, kündigte der für das Krisenmanagement zuständige EU-Kommissar Janez Lenarcic auf Twitter an. Dies erfolgte auf Antrag der Türkei, wie Lenarcic gemeinsam mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell erklärte.
Nach vorläufigen Angaben der Europäischen Union waren zehn Such- und Rettungsteams auf dem Weg, um die Kräfte vor Ort zu unterstützen. Sie kommen unter anderem aus Kroatien, Frankreich, Griechenland, Ungarn, Polen und den Niederlanden. Das EU-Koordinierungszentrum für Notfallmaßnahmen koordiniere den Einsatz der europäischen Helfer, hieß es in Brüssel. „Die EU ist auch bereit, die Betroffenen in Syrien (…) mit humanitären Hilfsprogrammen zu unterstützen“, ergänzten die beiden EU-Vertreter. Ein Sprecher der EU-Kommission sagte am Mittag, aus Syrien gebe es bislang keinen Antrag auf Hilfe.
In Deutschland bereitet das Technische Hilfswerk (THW) die Lieferung von Notstromaggregaten, Zelten und Decken vor. Auch Notunterkünfte und Anlagen zur Wasseraufbereitung könnten bereitgestellt werden, sagte Innenminister Nancy Faeser (SPD).
Auch die USA schicken Hilfe ins Krisengebiet. Präsident Joe Biden teilte am Montagvormittag (Ortszeit) mit, Rettungsteams sollten schnell in die Türkei entsandt werden, um die Rettungs- und Bergungsarbeiten in dem Erdbebengebiet zu unterstützen und den Menschen vor Ort zu helfen. Wenig später konkretisierte ein Sprecher des Außenministeriums, die Hilfsteams sollten in den nächsten Tagen starten.
Man stimme sich eng mit den türkischen Behörden ab, um jegliche benötigte Hilfe zur Verfügung zu stellen, sagte Biden. Außerdem unterstützten die USA humanitäre Partner in Syrien, hieß es. Der Präsident sprach den Betroffenen der Katastrophe sein Beileid aus.
Behörden riefen die Menschen auf, nicht auf die Straße zu gehen
In der Türkei verursachten Menschen, die betroffene Regionen verlassen wollten, Staus und behinderten damit die anrückenden Notfallteams. Die Behörden riefen die Menschen auf, nicht auf die Straße zu gehen. Moscheen in der Region wurden als Schutzräume für Menschen geöffnet, die bei Temperaturen um den Gefrierpunkt nicht in ihre beschädigten Häuser zurückkehren konnten.
In Diyarbakir baten Rettungskräfte um Ruhe, als sie unter den Trümmern eines elfstöckigen Gebäudes nach Überlebenden suchten. Sie zogen schließlich einen Mann heraus und trugen ihn durch eine dichte Menge von Hunderten Menschen, die den Einsatz besorgt beobachteten. Eine grauhaarige Frau weinte und wurde von einem Mann weggeführt, während ein Rettungshelfer mit weißem Helm versuchte, ein weinendes Mädchen zu beruhigen, das von zwei Freunden in den Arm genommen wurde.
Im von den Rebellen kontrollierten Nordwesten Syriens beschrieb die Syrische Zivilverteidigung der Opposition die Lage als katastrophal. Ganze Gebäude seien eingestürzt und Menschen unter den Trümmern gefangen. In der von den Rebellen gehaltenen syrischen Kleinstadt Asmarin in den Bergen an der türkischen Grenze wurden die in Decken eingewickelten Leichen mehrerer Kinder in ein Krankenhaus gebracht. Die Notaufnahmen in der Region waren überlastet, wie der Präsident der Syrisch-Amerikanischen Medizinischen Gesellschaft, Amdschad Rass, mitteilte.
Das Beben riss auch Bewohner des Libanon aus dem Schlaf und ließ etwa 40 Sekunden lang Gebäude schwanken. Viele Einwohner von Beirut verließen ihre Häuser und gingen auf die Straße oder fuhren mit ihren Autos von den Gebäuden weg.
Die Türkei ist immer wieder von schweren Erdbeben betroffen. Dort grenzen zwei der größten Kontinentalplatten aneinander: die afrikanische und die eurasische. Der größte Teil der türkischen Bevölkerung lebt faktisch in ständiger Erdbebengefahr.
Bei einem der folgenschwersten Beben der vergangenen Jahre kamen im Oktober 2020 in Izmir mehr als 100 Menschen ums Leben. Im Jahr 1999 war die Türkei von einer der schwersten Naturkatastrophen in ihrer Geschichte getroffen worden: Ein Beben der Stärke 7,4 in der Region um die nordwestliche Industriestadt Izmit kostete mehr als 17.000 Menschen das Leben. Für die größte türkische Stadt Istanbul erwarten Experten in naher Zukunft ebenfalls ein starkes Beben.
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Source: welt.de