Das Kind wittert den Trick sofort: “Das ist das falsche Müsli. Das esse ich nicht”, sagt es und schiebt das Schokomüsli von sich weg. Der Versuch, ihm eine Müsliversion mit weniger Zucker unterzujubeln: fehlgeschlagen. Haben süße Produkte erst einmal Einzug ins Familienleben gehalten, fällt es schwer, sie wieder zurückzudrängen.

Wer dennoch versucht, den Zuckerkonsum einzudämmen, braucht gute Nerven und viel Geduld. Aber es könnte sich lohnen. Denn der Zuckerkonsum ist hierzulande bedenklich hoch: 70 Gramm Zucker nimmt ein Erwachsener im Schnitt pro Tag zu sich. Fachgesellschaften empfehlen maximal 50 Gramm. Und auch Kinder konsumieren zu viel Zucker. Dabei kann zu viel, vor allem zugesetzter Zucker, früh im Leben zu erheblichen langfristigen Problemen führen. 

Das belegt eine neue Studie mit einem faszinierenden Studiendesign. Dafür verglichen die Ökonomen Paul Gertler und Tadeja Gracner die Gesundheitsdaten von Menschen, die direkt vor und nach dem Ende der Zuckerrationierung in Großbritannien geboren wurden. (NBER, 2023). 

Unter normalen Bedingungen hätte man nie ein Experiment durchführen können, in dem die Bevölkerung eines ganzen Landes binnen eines Jahres ihren Zuckerverzehr verdoppelt.

Peter von Philipsborn, Public-Health-Experte

“Das Ende der Zuckerrationierung stellt im Prinzip ein gigantisches Ernährungsexperiment dar, das mit der gesamten Bevölkerung Großbritanniens durchgeführt wurde”, sagt der Mediziner Peter von Philipsborn von der Ludwig-Maximilians-Universität München. Als Leiter der Nachwuchsgruppe Planetary Health Nutrition beschäftigt er sich intensiv mit der Frage, wie Regierungen eine gesunde Ernährung in der Bevölkerung fördern können. Zucker spielt dabei eine große Rolle.

Bis in die Fünfzigerjahre war Zucker in Großbritannien Mangelware und wurde deswegen rationiert. Noch 1953 machte Zucker deshalb gerade einmal zehn Prozent der Gesamtenergiezufuhr aus. Dies entspricht etwa 50 Gramm pro Tag und damit der von der Weltgesundheitsorganisation und vielen Fachgesellschaften empfohlenen Obergrenze. 

Dann aber endete die Rationierung und innerhalb eines Jahres stieg der Zuckerverzehr in Großbritannien auf das Doppelte an, während der Konsum anderer Lebensmittel weitgehend unverändert blieb. Dieser abrupte Anstieg bot den Forschern die einmalige Möglichkeit, die Langzeitfolgen, die spezifisch auf Zucker zurückgehen, zu untersuchen. “Unter normalen Bedingungen hätte man nie ein Experiment durchführen können, in dem die Bevölkerung eines ganzen Landes binnen eines Jahres ihren Zuckerverzehr verdoppelt”, sagt von Philipsborn.

Um etwas über die Gesundheit der vor und nach Ende der Rationierung Geborenen herauszufinden, zogen die Forscher Daten aus einer Panel-Studie zum Altern heran, die zwischen 2002 und 2018 alle zwei Jahre erhoben worden waren. Konkret verglichen sie dabei, wie es den zwischen 1950 und 1953 Geborenen im Vergleich zu den zwischen 1955 und 1960 Geborenen später im Leben, genauer im Alter von 50-65 Jahren, ging.

Die Ergebnisse sind bemerkenswert. Jene Jahrgänge, die nach der Zuckerrationierung geboren wurden und im Schnitt doppelt so viel Zucker aßen, waren deutlich kränker als die früher Geborenen. Die Zahl derjenigen, die erhöhte Entzündungsmarker im Blut aufwies, was ein Risikofaktor für Diabetes und Herzerkrankungen ist, war eineindrittelmal so hoch. Die Zahl der Diabetiker war sogar eineinhalbmal so groß. Auch die Zahl derjenigen, die erhöhte Blutfette hatten und über Gelenkentzündungen klagten, war bei denjenigen, die nach Ende der Zuckerrationierung geboren worden waren, deutlich höher. 

Wer als Kind viele Süßigkeiten isst, tut das oft auch im Erwachsenenalter

Aber hängen diese gesundheitlichen Unterschiede wirklich allein mit dem Zuckerkonsum zusammen? “Natürlich können auch andere Einflussfaktoren eine Rolle dabei spielen, etwa dass unter den später Geborenen auch mehr Menschen rauchten oder mehr Alkohol tranken”, sagt Peter von Philipsborn. Es sei dennoch sehr plausibel, dass zumindest ein Teil der beobachteten Effekte auf den Anstieg im Zuckerkonsum zurückzuführen ist. Dafür spreche die Größe der beobachteten Effekte und das robuste Studiendesign.  

Dass mehr Zucker im Mutterleib oder Kleinkindalter einen Effekt auf die spätere Gesundheit hat, ist überdies durchaus plausibel. Eine Vielzahl von Studien zeigt inzwischen, dass frühes Zuckeressen das Risiko für Stoffwechselerkrankungen erhöhen kann – und sich möglicherweise sogar auf die Gehirnentwicklung auswirkt. Entscheidend dürfte auch sein, dass sich im Kindes- und Jugendalter unsere Geschmackspräferenzen entwickeln, sagt Peter von Philipsborn. “Das ist eine besonders sensible Lebensphase.” Wer als Kind mit großer Selbstverständlichkeit Limonaden und Süßigkeiten esse und trinke, werde dieses Verhalten auch im Erwachsenenalter eher beibehalten. Und genau das zeigt sich auch in der neuen Studie. Die späten Jahrgänge aßen auch 50 Jahre nach dem Ende der Rationierung noch deutlich mehr Zucker.  

Eine weitere Beobachtung der kalifornischen Forscher hingegen hält Philipsborn für weniger belastbar: Die Wissenschaftler fanden nämlich auch hinsichtlich des schulischen und beruflichen Erfolgs große Unterschiede. Demnach gingen Erwachsene, die nach dem Ende der Rationierung geboren wurden, mit 18 Prozent geringerer Wahrscheinlichkeit aufs College und hatten mit 16 Prozent geringerer Wahrscheinlichkeit einen Job, der eine längere Ausbildung erforderte. Dies bedeutete auch, dass Erwachsene, die nach der Rationierung geboren wurden, im Schnitt ein kleineres Vermögen anhäuften.

Dass das aber mit der Rationierung zusammenhängt, darauf will von Philipsborn sich nicht festlegen: Es stimme zwar, dass eine hohe Zuckerzufuhr die Neigung zu Adipositas erhöhe und Menschen mit Adipositas oft Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt seien – was sich dann auf ihren beruflichen Erfolg auswirken kann. “Dennoch halte ich diesen Teil der Studie für weniger aussagekräftig, da die beobachteten Unterschiede auch andere Ursachen haben könnten”, sagt der Forscher. “Das durchschnittliche Einkommen von Geburtsjahrgängen hängt ja von zahlreichen Faktoren ab – zum Beispiel, ob ein Jahrgang in kritischen Lebensphasen wie dem Eintritt von der Schule ins Berufsleben Wirtschaftskrisen ausgesetzt war. Und auch längerfristige wirtschaftliche und gesellschaftliche Trends spielen eine Rolle.” 

Für die Wirtschaft bedeutet mehr Zucker auch mehr Absatz

Das Tückische am Zucker sei, dass er unser Sättigungsgefühl ausschalte, sagt Peter von Philipsborn. “Deswegen wird zum Dessert meistens etwas Süßes gereicht – Süßes essen wir auch dann noch, wenn wir eigentlich schon satt sind.” Je mehr Zucker in Fertigpizzen, Fruchtjoghurt oder Fertigtomatensauce enthalten sei, desto mehr wird davon gegessen, und desto höher der Absatz. “Es gibt daher einen starken wirtschaftlichen Anreiz, Lebensmitteln Zucker zuzusetzen”, sagt von Philipsborn. Und genau deswegen braucht es aus seiner Sicht politische Regulierung.

Aktuell arbeitet die Bundesregierung an einem Eckpunktepapier, das bis Ende 2023 fertig sein soll: die künftige Ernährungsstrategie für Deutschland. Darin steht zwar, dass man den Zuckerkonsum reduzieren will, wie genau aber ist noch nicht klar. Die bisherigen Formulierungen sind vage, aus Sicht Peter von Philipsborns ein Versäumnis.

Er kann klar benennen, was Kinder heute wirksam vor zu viel Zucker schützen könnte: Keine allgemeine Zuckerrationierung wie zu Kriegszeiten in Großbritannien, dafür aber verbindliche Qualitätsstandards für die Kita- und Schulverpflegung, an Kinder gerichtete Süßwarenwerbung gesetzlich zu beschränken, Gemüse, Obst und andere gesunde Lebensmittel von der Mehrwertsteuer zu befreien und eine Herstellerabgabe auf Softdrinks zu erheben.

Gerade Letzteres kann einen großen Effekt haben: Erst kürzlich untersuchten Forscherinnen und Forscher aus Cambridge, welche gesundheitlichen Folgen die Soft-Drink-Steuer hatte, die 2018 in Großbritannien eingeführt wurde (Plos Medicine: Rogers et al., 2023). Das Gesetz sah eine gestaffelte Abgabe vor: Je höher der Zuckergehalt eines Getränks, desto höher die Abgabe. In der Folge reduzierten die Hersteller den Zuckergehalt, um niedrigere Abgaben zahlen zu müssen. Und das, zeigt die Studie, hatte tatsächlich einen Effekt, es senkte das Adipositasrisiko wesentlich.

Die größten Unterschiede traten bei jenen Kindern auf, die in benachteiligten Gebieten lebten. Denn dort gehen besonders viele Zuckergetränke über die Ladentheke. Entsprechend häufig tritt dort Übergewicht auf. Und hier konnten mit der Herstellerabgabe die Adipositasraten am deutlichsten gesenkt werden.

Es geht nicht darum, Süßes zu verteufeln, sondern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Nahrungsmittel gesund sind und welche nicht.

Peter von Philipsborn

Softdrinks sind eine der wesentlichen Ursachen für Übergewicht und Adipositas, das bestätigt auch die Weltgesundheitsorganisation. Nach Einführung einer Limosteuer ging der Zuckergetränkeverbrauch in Nationen wie Großbritannien, Mexiko, Finnland und Frankreich deutlich zurück.

Auch wenn es Aufgabe der Eltern ist, Kindern gesundes Essverhalten vorzuleben, entlässt dies die Politik eben nicht aus der Verantwortung. Unser heutiges Ernährungsumfeld erschwert es uns, wenig Zucker zu essen. Fruchtjoghurts, Schokomüsli, Quetschies, sie alle gelten zu Unrecht als gesund. Und Limonaden und zuckerhaltige Snacks werden überall beworben. Und wenn Erwachsene die Marketingstrategien der Lebensmittelindustrie kaum durchschauen, wie sollen das Kinder leisten? 

Was können Eltern also tun? “Es geht nicht darum, Süßes zu verteufeln, sondern ein Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Nahrungsmittel gesund sind und welche nicht”, sagt Peter von Philipsborn. Am besten funktioniert dies, wenn Kinder mithelfen dürfen beim Einkaufen und Kochen. Dadurch wird aus einer kleinen Naschkatze über Nacht kein Rosenkohlfan. Aber wie immer gilt bei Kindern: Geduld. Ganz viel Geduld.