Proteste in Frankreich

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Nach Emmanuel Macrons Entscheidung, die Rentenreform mittels Vertrauensfrage durch die Nationalversammlung zu bringen (Anwendung des Verfassungsartikels 49.3), um eine zweite Abstimmung zu vermeiden, ist Frankreich in den Aufstandsmodus gewechselt. Straße und Talkshows brennen, die eine im wörtlichen, die anderen im übertragenen Sinn. Die hitzigen Debatten laufen ethisch und rhetorisch auf eine Frage zu: Wer ist schuld an der Gewalt?

Kritiker sehen in der Anwendung von Artikel 49.3 „symbolische Gewalt“: Zwar handle der Präsident verfassungsgemäß, missachte aber den Willen des Volkes – das die Reform zu zwei Dritteln ablehnt –, wenn er keine Abstimmung seiner Vertreter zulasse; selbst wohlmeinende Kommentatoren meinen, dass Macron der Demokratie einen Gefallen getan hätte, wäre er das Risiko eingegangen.

Marine Le Pens Rassemblement National setzt einen drauf und verlangt eine Volksabstimmung über die Reform. Die habe Macron im Wahlkampf versprochen, behauptet auch Sandrine Rousseau (Grüne); falsch, er hatte sie nur nicht ausgeschlossen. Der Vorwurf wiederholt sich: formaler Verfassungsrespekt in undemokratischem Geist. Richtig ist: Partizipativ ist Macrons Amtsführung nie gewesen, neue Formen der Mitbestimmung dienen als Feigenblätter, die Kompromisse mit der bürgerlichen Rechten fallen unter das gewohnte Geschacher; insofern hat er sein Versprechen, auf andere Art Politik zu machen, gebrochen. Aber ist ein arroganter, vertikaler Politikstil gleich gewalttätig? Der Sinn der Behauptung ist durchsichtig: Sie rechtfertigt brennende Paletten, Mülltonnen und Autos als Gegengewalt.

Macrons Kritiker erklären allerdings nicht, inwiefern die unzähligen Änderungsanträge der Opposition, die eine wirkliche Parlamentsdebatte zur Reform bei erster Lesung verhindert hatten, nicht auch schon symbolische Gewalt waren – ebenso wie die „Marseillaise“, mit der die Abgeordneten des Linksbündnisses NUPES die Rede von Premierministerin Élisabeth Borne zu übertönen suchten. Einig sind sich Politiker und Journalisten in ihrer Beunruhigung darüber, wie kurz die Straße davorsteht, von der symbolischen zur realen Gewalt zu wechseln: In Dijon wurden am Donnerstag Puppen mit Gesichtern von Macron und Reform-Ministern verbrannt; Abgeordnete und ihre Mitarbeiter werden bedroht und stehen unter Polizeischutz; Samstag Nacht wurde das Abgeordnetenbüro von Reformbefürworter Éric Ciotti in Nizza verwüstet.

Angesichts der für diese Woche angekündigten Proteste fürchten Kommentatoren soziale Unruhen: In den Medien ist von einer „gilet-jaunisation“ die Rede, von einer „Gelbwestisierung“ der Proteste. Der Neologismus zeigt: In der Sprache ist die Gewalt längst angekommen. Wo stecken die Ordnungshüter der Académie française eigentlich, wenn man sie braucht?

Source: faz.net