„Putin nutzt Gas als Waffe, um uns zu schwächen. Aber es wird ihm nicht gelingen“
WELT: Minister Parlicov, seit Ausbruch des Krieges im Nachbarland Ukraine leidet die Bevölkerung in Moldau unter einer Energiekrise. Warum sind die Preisschocks immer noch nicht überwunden?
Victor Parlicov: Wir haben uns von russischem Gas getrennt, um unabhängig zu werden. Das war lange Zeit nicht möglich. Bis 2021 hatten wir kein Gas aus anderen Quellen, keine Gasvorräte, keine Möglichkeit, Gas von anderen Lieferanten als von der russischen Gazprom zu kaufen. Wir waren vollständig vom russischen Gas abhängig. Jetzt leben wir in einer völlig neuen Realität. Seit Dezember hat der westliche Teil Moldaus so gut wie kein Gas aus Russland mehr gekauft. Wir haben eine Pipeline nach Rumänien gebaut, die es uns möglich macht, Gas von europäischen Märkten zu kaufen: die Trans-Balkan-Pipeline. Doch der Preis für die Freiheit ist groß, denn das Gas aus Russland war extrem günstig.
WELT: Die Gaspreise sind um ein Siebenfaches gestiegen – wie sollen die Menschen in Moldau sich das leisten?
Parlicov: Im Dezember haben wir Hilfe von der EU bekommen, durch die wir die Bürger entlasten können. Bis April stehen uns circa 285 Millionen Euro zur Verfügung. Dank der Unterstützung der internationalen Gemeinschaft – der EU und den USA – ist es uns gelungen, den Ärmsten einen Teil der Energierechnungen über ein Ausgleichssystem zu zahlen. Die Energiepreise sind jetzt wieder niedriger als zu Beginn des Winters.
WELT: Unabhängig von russischem Gas sind Sie trotzdem nicht – in die abtrünnige Region Transnistrien fließt weiterhin ausschließlich russisches Gas.
Parlicov: Die Abhängigkeit von Russland hat sich drastisch verringert, ist aber noch nicht vorbei. Gazprom liefert weiterhin Gas nach Transnistrien, das nicht von den moldauischen Verfassungsorganen kontrolliert wird. Rund 60 Prozent des gesamten Gasimports von Moldau kommen noch aus Russland.
WELT: Und diese 60 Prozent fließen in den relativ schmalen Landstreifen Transnistrien?
Parlicov: In Transnistrien befindet sich das größte Elektrizitätskraftwerk von Moldau. Dort wird das Gas in Strom umgewandelt und an den Rest der Republik verkauft. Transnistrien verdient durch den Verkauf von Strom eine Menge Geld. Deswegen spielt russisches Gas auf dem Strommarkt indirekt immer noch eine Rolle. Als im Winter die Energiekrise kam, haben wir beschlossen, den Strom weiter aus Transnistrien zu kaufen, damit die Bevölkerung nicht auf günstigen Strom verzichten muss. Diese Preisspitzen haben uns extrem verwundbar gemacht.
WELT: Auf diese Weise beeinflusst Gazprom weiter den Energiemarkt?
Parlicov: Ja, der restliche Teil Moldaus importiert Gas aus Europa. Aber der Strom aus dem Elektrizitätswerk in Transnistrien deckt etwa 70 Prozent des Stromverbrauchs im ganzen Land ab – dafür ist das Gas aus Russland wichtig.
WELT: Wieso ist Gas aus Russland so viel günstiger?
Parlicov: Gazprom liefert das Gas de facto zum Nulltarif nach Transnistrien. Über die Tochterfirma Moldovagaz verkauft Gazprom theoretisch das Gas an die Region. Doch die Regierung dort zahlt sich das Geld selbst aus, um sich so zu finanzieren.
WELT: Und was hat Russland davon?
Parlicov: Einfluss. Moldau ist seit 1992 Teil der Einflussnahme Russlands – seit seiner Gründung, oder eigentlich seit dem Krieg in Transnistrien. Der Energiesektor ist von entscheidender Bedeutung, wenn es darum geht, die Illusion der Unabhängigkeit Transnistriens vom Rest der Republik aufrechtzuerhalten. Für Russland ist Gas ein Instrument, um die Kontrolle über Moldau aufrechtzuerhalten. Dieses Muster gilt nicht nur für uns, alle Hotspots der ehemaligen UdSSR folgen demselben Muster – ob in Berg-Karabach, Ossetien, auf der Krim oder eben in Transnistrien.
WELT: Russland benutzt Gas also als eine Art Waffe?
Parlicov: Wir befinden uns inmitten eines hybriden Krieges – Propaganda wird vermehrt verbreitet und im Land finden Proteste statt. Die Aktionen werden aus Moskau initiiert und mitgesteuert. Russland nutzt seinen Einfluss auf das Land, soziale Unruhen zu schüren. Denn durch die hohen Energiepreise ist die Bevölkerung extrem verwundbar. Putin will sich das zu eigen machen und setzt das Gas als Waffe ein, um die Bevölkerung weiter zu schwächen. Doch es wird ihm nicht gelingen, unser Land zu destabilisieren.
WELT: Wieso sind Sie sich da so sicher?
Parlicov: Kurzfristig können wir jetzt mit den Hilfen aus der EU reagieren. Und die Preisschocks, die wir bisher verkraften konnten, waren wahrscheinlich höher als das, was vor uns liegt. Außerdem werden die Reaktionsmechanismen, die wir in der Zwischenzeit entwickelt konnten, solche Schocks schneller abfangen können. Wir sind nicht mehr angewiesen auf Energie aus Russland. Strom aus Transnistrien ist eine Option, aber kein Muss mehr. Theoretisch können wir nun auch Strom aus Europa einkaufen.
WELT: Wie wollen Sie Transnistrien von dem russischen Einfluss befreien, ohne dass das Land wirtschaftlich weiter geschwächt wird?
Parlicov: Langfristig müssen wir sicherstellen, dass wir mehr erneuerbare Energien aufnehmen können. Bis 2030 wollen wir 30 Prozent unserer Energie aus Erneuerbaren ziehen. Wir sind bereits dabei, mehr Investitionen in erneuerbare Energien zu ermöglichen, um weniger abhängig von der Stromerzeugung aus Transnistrien zu werden.
WELT: Wie soll das weitergehen? Der nächste Winter steht vor der Tür.
Parlicov: Wenn wir einen längerfristigen Gasvertrag zu einem niedrigeren Preis abschließen, werden die Energiepreise wieder sinken. Das ist das kurzfristige Ziel: den Schmerz der Gesellschaft zu lindern und Zeit zu gewinnen, die notwendigen Ressourcen zu sammeln, um dann komplett unabhängig von Russland zu werden.
Source: welt.de