Pop-Anthologie (163): „Sir Duke“ von Stevie Wonder

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Das Studio des Musiklabels Motown in Detroit ist ein unscheinbarer flacher weißer Bau an einer vielbefahrenen Straße. Doch sobald man die Räume betritt, in denen Dutzende von Welthits entstanden sind, vermittelt sich sofort die Magie dieses Ortes. Im ehemaligen Aufnahmestudio lässt sich auch die kulturelle Trennung der verschiedenen Ethnien in den USA spüren.

Ein Guide braucht nur kurz drei Töne anzustimmen (di-dö-dö) und schon singt der ganze Raum „I got sunshine on a cloudy day“. Doch das weiße Publikum steigt nach den ersten Zeilen aus und erst zum Refrain des Temptations-Klassikers „My Girl“ wieder ein. Die Schwarzen singen vom Anfang bis zum Ende voller Inbrunst mit. Es ist ihre Kultur. Labelgründer Berry Gordy aber war darum bemüht, sie auch zu der des zahlungskräftigen weißen Publikums werden zu lassen.

Die Räumlichkeiten hat Stevie Wonder zum ersten Mal als Elfjähriger betreten. Bald stellte sich heraus, dass der bei Geburt erblindete junge Sänger eines der Musikgenies war, von denen Gordy mehr als ein Jahrzehnt lang auch finanziell enorm profitierte, bevor sie sich künstlerisch selbständig machten und mitten in der Zeit der Black Power zu Chronisten des sozialen Wandels wurden.

Allein schon die Sechziger-Hits machen ihn zum Star

Würde man nur die ersten zehn Jahre seiner Karriere bis zum Jahrzehntwechsel von den sechziger in die siebziger Jahre bewerten, zählte Stevie Wonder mit Eigenkompositionen wie „I Was Made To Love Her“, „Uptight“ oder „I’m Wondering“ oder fremdem Material wie „For Once In My Life“ oder „Blowin‘ in the Wind“ schon zu den Großen der Popmusik. Ein zuverlässiger Lieferant kontinuierlicher neuer Hitsingles für Radio und Tanzfläche.

Dann deutete sich im Übergang der Jahrzehnte mit „Signed, Sealed, Delivered (I‘m Yours)“ an, dass Wonder bereit war, noch eine weitere Stufe zu nehmen. Vom Album „Where I’m Coming From“ im Jahr 1971 an legte er ein Werk vor, das im Rang dem der Beatles ebenbürtig ist. Anders als den Fab Four, die in der Popgeschichtsschreibung zurecht eine zentrale Rolle zugewiesen bekommen haben, wird dieser Rang in der Spitzengruppe Stevie Wonder aber trotz seiner Serie von acht unverwechselbaren Klassikern, 20 Nummer-Eins-Hits über die gesamte Karriere und 25 Grammys nicht automatisch zuteil. In den Bestenlisten ist als afroamerikanisches Beispiel der Platz für Marvin Gayes pazifistisches und ökologisches Meisterwerk „What’s Going On“ reserviert.

Über „Songs In The Key Of Life” von Stevie Wonder, eines der fünf besten Doppelalben der Popgeschichte, wird immerhin nur positiv gesprochen. Ähnlich wie das „White Album“ der Beatles galt es bei Veröffentlichung 1976 als eine Bestandsaufnahme dessen, was in seinem Genre zu diesem Zeitpunkt möglich war: Funk, Soul, Pop, Fusion, Latin verschmolz der Sänger und Komponist kunstvoll.

Der Einfluss des Albums von 1976 ist greifbar

Zwanzig Jahre später waren die Nachwehen bei den großen Figuren der Popkultur dieser Zeit mehr als zu spüren – sie lieferten zum Teil leicht überarbeitete Übersetzungen von Wonder-Songs in die Jetztzeit, die kaum anders klangen als im Original: beim Rapper Coolio („Gangsta’s Paradise“), bei George Michael im Duett mit Mary J. Blige („As“) oder beim Kinostar Will Smith („Wild Wild West“).

Ein Auftritt im Weißen Haus im Februar 2009 während der Präsidentschaft von Barack Obama, der „Signed, Sealed, Delivered“ einst als Wahlkampfsong ausgewählt hatte, zeigte die zentrale Rolle Wonders in der schwarzen Kultur. Ein kraftvolles Oeuvre voller unverwechselbarer Melodien und kluger Lyrics. Doch in der von Weißen dominierten Popgeschichtsschreibung ist das nicht vollständig angekommen.

Auch seine anderen überragenden Platten dieser Dekade wie „Music Of My Mind“, „Talking Book“, „Innervisions“ (mit den fantastischen „Living In The City“) oder „Hotter Than July“ (mit der Martin Luther King gewidmeten Geburtstagshymne „Happy Birthday“) schaffen mit Leichtigkeit den Spagat zwischen ansprechenden Hitsingles für den Dancefloor und einer Geschlossenheit des Werks mit sozialkritischen Anmerkungen zur Lage in den Vereinigten Staaten nach dem White Flight, der Flucht des weißen Mittelstands aus den urbanen Zentren.

Eine mitreißende Hymne an das Leben

In diesem außergewöhnlichen Werk eines auch damals immer noch jungen Künstlers sticht „Sir Duke“ als eines der strahlenden Beispiele heraus. Der vierminütige Song mit dem markanten Bläsersatz wurde zu Wonders bis dato größtem Erfolg, erreichte Platz 1 der Popcharts in den Vereinigten Staaten und Platz 2 in Großbritannien. Acht Jahre später wurde dieser Erfolg von einem anderen Song getoppt. Aber dazu später mehr.

„Sir Duke“ ist eine mitreißende Hymne an das Leben, an die verbindende Kraft der Musik, eine Gute-Laune-Maschine mit schier unglaublichen musikalischen Einfällen. Und sie ist eine Hommage an einen der größten Komponisten des 20. Jahrhunderts: den Jazzmusiker Duke Ellington.

Dieser 1899 geborene Musiker hat zwischen den zwanziger und siebziger Jahren einen ähnlichen Spagat wie Stevie Wonder hinbekommen: Er komponierte Gassenhauer wie „Take The A-Train“, „Satin Doll“, „Caravan“ oder „In A Sentimental Mood“, die zu Standards wurden. Ellington war ein begnadeter Pianist, glänzte aber noch mehr als Komponist und Arrangeur für anspruchsvolle Big-Band-Musik. Er widmete sich komplexeren Jazz-Werken wie dem opernartig angelegten „Black, Brown And Beige“ oder einer Reihe von Suiten, die klassische Werke zitierten oder ihnen in ihrem Anspruch gleichkamen. Sein „Concert Of Sacred Music“ zählt zu den Höhepunkten spiritueller Musik.

Großer Popmusiker huldigt führendem Komponisten

In „Sir Duke“ huldigt also einer der größten Popmusiker der Geschichte (ein Schwarzer) einem der führenden Komponisten des 20. Jahrhunderts (auch ein Schwarzer). Das geschieht auf lyrischer Ebene mit sehr einfachen Mitteln. Musik wird als eine eigenständige Welt beschrieben, in der eine Sprache gesprochen wird, die jeder verstehe.

Alle hätten dieselbe Aussicht, sie zu singen, dazu zu tanzen oder in die Hände zu klatschen. Nur weil eine Schallplatte eine Rille hat, heiße das aber nicht, dass sie auch groove. Vom ersten Ton an, wenn sich die Leute dazu bewegten, lasse sich sagen: Sie fühlen sie am ganzen Körper. Diese einer anonymen Masse zugeschriebenen Befindlichkeit wird zum Leitmotiv des Songs. Später wechselt das „They“ zur unmittelbaren Ansprache „You“.

Zur Ellington-Hommage wird „Sir Duke“ sowohl auf textlicher als auch auf musikalischer Ebene. Für die Instrumentalpassagen hat Stevie Wonder einige der schärfsten Bläsersätze der Popmusik komponiert. In Konzerten forderte er das Publikum regelmäßig dazu auf, diese von Synkopen durchsetzte Melodie mitzusingen. Seine Huldigung an den neben Charlie Parker und Louis Armstrong einflussreichsten Jazzmusiker leitet er in der zweiten Strophe mit einer allgemeinen Aussage über die Musik ein: Sie wisse, dass sie jetzt und immer existiere.

Basie, Miller, Satchmo and the king of all, Sir Duke

Musik sei eines der Dinge, das niemals aus dem Leben scheiden werde. Einige Pioniere gebe es, die selbst mit fortschreitender Zeit nicht vergessen werden dürften: (Count) Basie, (Glenn) Miller, Satchmo (Louis Armstrong) und der König von ihnen allen: Sir Duke (Ellington). Komme noch eine Stimme wie die von Ella (Fitzgerald) hinzu, werde eine Band immer bestehen.

Danach wechselt sich der preisende Gesang „Du kannst es überall fühlen“ mit den Bläserpassagen ab. Mit ihnen erinnert Wonder an die sehr ausgefeilten mehrstimmigen Ensemblesätze Ellingtons, aber mit Seventies-Funkiness statt des urigen Growl-Sounds oder der eleganten Swing-Arrangements des Meisters. Zum Schluss folgt die Aufforderung „Come on, let’s feel it all over“ und „Everybody all over, go”.

In Auftritten hat Wonder den Song häufig gestrafft und schon nach drei Minuten beendet oder sogar in Medleys eingearbeitet. Die Publikumsreaktion aber ist immer euphorisch. Der Song hat einen sehr ansteckenden Groove und erzeugt von der Bühne bis zum Saal das gemeinschaftliche Musikerlebnis, das im Text beschrieben wird.

Ein Meisterwerk mit 26 Jahren

„Songs In The Key Of Life” ist zusammen mit „Innervisions“ der Höhepunkt im Schaffen von Stevie Wonder. Mit 26 Jahren hatte er sein Meisterwerk geschaffen, einen unumstößlichen Fels der auf Platte gebannten Popmusik. Ein Songzyklus für die Ewigkeit, die noch andere herausragende Singles wie das Black Consciousness besingende „Black Man“, die Baby-Hymne „Isn’t She Lovely“, „I Wish“, „Pasttime Paradise“ und noch so viele andere außergewöhnliche Songs mehr enthält.

Danach wurde es ruhiger. Bis zur nächsten regulären Platte vergingen vier Jahre. Dann folgte eine weitere Pause. Durch sein überragendes Talent schaffte es Stevie Wonder auch im Jahrzehnt von Michael Jackson, Prince und Madonna, mit seinen Songs ein Massenpublikum zu erreichen. Doch während „Part Time Lover“ eine der besseren Uptempo-Nummern des Jahrzehnts ist (etwa auf einer Stufe mit „I’m Still Standing“ von Elton John), geriet er mit zwei weiteren Songs in sehr seichtes Fahrwasser. „I Just Called To Say I Love You“ und „Ebony And Ivory” (mit Beatle Paul McCartney) triefen nur so vor Kitsch und tragen sicherlich dazu bei, dass ein jüngeres Publikum in Wonder nicht so direkt den herausragenden Künstler erkennen kann, der er ist.

In Nick Hornbys Plattenladen-Roman „High Fidelity“ werden Kunden, die eine Single von „I Just Called To Say I Love You” suchen, sofort in die Kategorie der Käufer ohne Geschmack einsortiert. Es dürfte kaum Mitglieder der oft als Geschmackspolizei auftretenden Insiderclique geben, die diesem Song auch nur irgendetwas abgewinnen können.

Stevie Wonder hat mit Anfang Dreißig sein Werk im Wesentlichen abgeschlossen. Andere Musiklegenden haben im hohen Alter noch einmal begonnen, ihr Vermächtnis aufzufrischen. Von McCartney, Bob Dylan, Johnny Cash, Dr. John oder David Bowie gibt es ein zum Teil beachtliches Alterswerk. Viele seiner Mitstreiter des Seventies-Soul wie Curtis Mayfield, Marvin Gaye oder Donny Hathaway sind früh gestorben. Es wäre ein Traum, würde ein Produzent mit dem Gespür fürs Weglassen wie Rick Rubin sich vornehmen, noch einmal ein bleibendes Dokument des großen Stevie Wonder zu betreuen. Auch wenn der seine Wurzeln zu seinem musikalischen Ursprung in Detroit längst gekappt hat.

Source: faz.net