Der 8. Januar wird als denkwürdiger Tag in die brasilianische Geschichte eingehen. Chaos und blinde Zerstörungswut hielten die Hauptstadt Brasilia über Stunden in Atem, nachdem Hunderte radikalisierter Anhänger des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro gewaltsam in den Kongress, in den Regierungspalast und in das Verfassungsgericht eingedrungen waren.
Auf Videos in den sozialen Netzwerken war zu sehen, wie die Vandalen mit Brasilienflaggen durch Flure und Büros liefen, Türen und Fenster zertrümmerten, Bilder von den Wänden rissen und Mobiliar aus den Fenstern warfen. Außer dem Wachpersonal befanden sich kaum Personen in den Gebäuden. Es gab nur wenige Verletzte. Doch die materiellen Schäden sind immens. Die Vandalen zerstörten und entwendeten zahlreiche Kunstwerke mit großem historischem Wert.
Erst am späten Nachmittag gelang es den Sicherheitskräften, unterstützt von Sondereinheiten, die Gebäude wieder zu räumen und zahlreiche Randalierer festzunehmen. Die Polizei setzte massiv Tränengas ein. Auch Wasserwerfer, Panzerwagen und Hubschrauber kamen zum Einsatz. Laut offiziellen Angaben wurden über 200 Personen festgenommen.
Am frühen Abend war das Regierungsviertel nach vereinzelten Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten geräumt und abgeriegelt. Schon im Laufe des Nachmittags hatte Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der sich am Sonntag nicht in der Hauptstadt befand, die Verantwortung für die öffentliche Sicherheit in Brasília per Dekret mit einer sogenannten „Bundesintervention“ an die Zentralregierung übergeben.
In einer Pressekonferenz am späten Abend zog Justizminister Flavio Dino Bilanz und bezeichnete die Geschehnisse als einen „Versuch, den demokratischen Rechtsstaat zu zerstören“. Die Kriminellen würden dementsprechend bestraft. Dino sagte, dass man sich auf solche Ereignisse vorbereitet habe, es im Bundesdistrikt aber offensichtlich zu schwerwiegenden Versäumnissen gekommen sei. Die Kritik richtet sich in erster Linie an den Gouverneur des Bundesdistriktes Ibaneis Rocha und dessen bisherigen Sicherheitschef Anderson Torres.
Torres wurde im Laufe des Sonntags entlassen. Später forderte die Generalstaatsanwalt Jorge Messias die Verhaftung von Torres unter dem Vorwurf, den Sturm auf das Regierungsviertel erleichtert zu haben. Torres, der früher Minister für Justiz und öffentliche Sicherheit in der Regierung von Bolsonaro war, hält sich derzeit in den Vereinigten Staaten auf. Unklar ist auch, wie groß die Toleranz innerhalb der Sicherheitskräfte gegenüber den radikalen Bolsonaro-Anhängern ist. Auch am Sonntag fielen zahlreiche Beamte durch Passivität auf.
Die Geschehnisse werden weitreichende Ermittlungen nach sich ziehen. Im Senat werden bereits erste Stimmen laut, die eine parlamentarische Untersuchungskommission fordern. Laut Justizminister Dino wurden bereits am Sonntag vierzig Busse beschlagnahmt, die Demonstranten aus unterschiedlichen Regionen nach Brasilia gebracht haben sollen. Es gibt Hinweise darauf, dass die Busfahrten kostenlos in einschlägigen sozialen Netzwerken und Foren angeboten wurden.
„Wir wissen, wer die Finanzierer dieser Busse sind“, sagte Dino und drohte mit rechtlichen Konsequenzen. Auch soll es Informationen über weitere Busse geben, die am späteren Sonntag nach Brasilia losfuhren. Die Straßenkontrollen in diversen Bundesstaaten wurden in Absprache mit den Gouverneuren verstärkt. Mehrer Gouverneure haben zudem Angeboten, Sicherheitskräfte zur Verstärkung in die Hauptstadt zu schicken.
Bolsonaros Anhänger campieren vor Armee-Hauptkommando
Die Geschehnisse, die an den Sturm auf das Kapitol in Washington am 6. Januar 2021 erinnern, ereigneten sich nur eine Woche nach der Amtseinsetzung von Lula da Silva. Die ursprünglich als Demonstration vorgesehene Aktion, an der sich gegen 3000 Personen beteiligten, ging maßgeblich von einem großen Kamp von Bolsonaro-Anhängern vor dem Hauptkommando der Armee in Brasilia aus. Seit der Wahlniederlage Bolsonaros haben sich die Anhänger des ehemaligen Präsidenten im Protest vor Militäreinrichtungen im ganzen Land installiert. Auch hinter diesen bemerkenswert gut ausgerüsteten Kamps stehen finanzkräftige „Sponsoren“, die Ziel von Ermittlungen sind.
Die radikalen Bolsonaro-Anhänger sprechen von Betrug und akzeptieren das Wahlresultat nicht. Seit Wochen fordern sie unverblümt eine Militärintervention. Auch die Stürmung des Kongresses oder des Verfassungsgerichts war immer eine Option. Trotzdem wurden sie von der Armee und den Behörden geduldet. Nach den Geschehnissen von Sonntag werde die Armeespitze ihre Haltung gegenüber den Manifestanten neu abwägen, hieß es am Sonntag zunächst. Später zeigten lokale Medien allerdings Aufnahmen, welche die Armee dabei zeigen soll, das Kamp der Bolsonaro-Anhänger vor dem Hauptkommando vor dem Zugriff der Polizei abzuschirmen.
Präsident Lula da Silva befand sich am Sonntag nicht in der Hauptstadt, sondern im Bundesstaat São Paulo, flog jedoch am Abend wieder nach Brasilia zurück. Er verurteilte den Angriff: „Alle Vandalen werden gefunden und bestraft“, sagte der Präsident am Sonntag. Man werde auch herausfinden, wer sie finanziert habe. Lula da Silva sagte darüber hinaus, dass die Demonstranten Nazis und Faschisten genannt werden könnten. „Sie werden erkennen, dass die Demokratie das Recht auf Freiheit und freie Meinungsäußerung garantiert, aber auch verlangt, dass die Menschen die Institutionen respektieren, die geschaffen wurden, um die Demokratie zu stärken.“
Unzählige Persönlichkeiten aus Politik, Justiz und Medien, unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit, taten es Lula da Silva gleich und verurteilten die Geschehnisse. Auch aus dem Ausland kamen unzählige Reaktionen, darunter auch von US-Präsident Joe Biden, der die Stürmung der Gebäude in Brasilia als „ungeheuerlich“ bezeichnete. Der Nationale Sicherheitsberater Bidens, Jake Sullivan, schrieb auf Twitter: „Die Vereinigten Staaten verurteilen jeden Versuch, die Demokratie in Brasilien zu untergraben.“ Präsident Biden beobachte die Situation genau. Ihre Unterstützung für die demokratischen Institutionen Brasiliens sei unerschütterlich.
In den Vereinigten Staaten haben die Szenen in Brasilia Erinnerungen an den 6. Januar 2021 geweckt, als radikale Trump-Anhänger gewaltsam das Kapitol in Washington stürmten, wo der Kongress tagte, um den Wahlsieg Bidens formell zu bestätigen. Trump hatte seine Anhänger zuvor damit aufgewiegelt, er sei durch massiven Wahlbetrug um einen Sieg gebracht worden. Als Folge der Krawalle kamen damals fünf Menschen ums Leben.
Auch in Brasilien werfen viele dem ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro, dessen Söhnen sowie Leuten aus dem engeren Umfeld vor, ihre radikalsten Anhänger in ihren Absichten und Taten bestärkt zu haben und damit eine teilweise Verantwortung für das Geschehene zu tragen. Bolsonaro hatte seine Wahlniederlage nie explizit akzeptiert. Schon vor der Wahl hatte er das Wahlsystem wiederholt als unsicher und unzuverlässig bezeichnet. Nach der Wahl schließlich wurde der Betrugsvorwurf von Bolsonaro, seiner Entourage und selbst von der Armee ohne einen einzigen konkreten Hinweis am Leben gehalten.
Bolsonaro verurteilt die Angriffe
Zu den antidemokratischen Protesten seiner Anhänger schwieg der abgewählte Präsident. Entgegen den Gepflogenheiten hatte Bolsonaro nicht an der Amtseinführung seines Nachfolgers Lula da Silva am Neujahrstag teilgenommen, sondern war mit seiner Familie nach Florida geflogen. Vor seinem Abflug wandte er sich an seine Anhänger und rief sie zum Kampf gegen Lula da Silva auf. Auch ist bekannt, dass sich die Bolsonaros, insbesondere der Sohn und Abgeordnete Eduardo Bolsonaro, seit der Wahlniederlage wiederholt mit den früheren Trump-Beratern Stephen Bannon und Jason Miller getroffen und telefonisch unterhalten hatte. Dabei ging es laut der „Washington Post“ darum, die nächsten Schritte nach der Wahlniederlage auszuloten.
Auch an diesem Sonntag blieb Bolsonaro lange still. Erst am späten Abend wandte sich der ehemalige Präsident über die sozialen Netzwerke an die Öffentlichkeit. Er habe sich immer innerhalb der vier Linien der Verfassung bewegt, schrieb Bolsonaro. Friedliche Demonstrationen seien Teil der Demokratie, Zerstörung und Invasionen von öffentlichen Gebäuden zählten nicht dazu. Bolsonaro wehrte sich in seiner Nachricht gegen die „Anschuldigungen ohne Beweise“ gegen ihn.
Bolsonaros Reise nach Florida erklären einige Beobachter auch mit dessen Angst vor einer juristischen Verfolgung in Brasilien. Seit dem Regierungswechsel Anfang Jahr besitzt Bolsonaro keine politische Immunität mehr. In Brasilien laufen mehrere Ermittlungen, in die auch Bolsonaro verwickelt ist. Die linke Partei PSOL hat bereits die Verhaftung Bolsonaros beantragt. In den Vereinigten Staaten fordern derweil einige Persönlichkeiten aus den Reihen der Demokraten eine Ausweisung Bolsonaros.
Die Geschehnisse vom Sonntag verdeutlichen die politische Radikalisierung und einen gewissen Grad von Anomie in Brasilien. Einige Beobachter gehen davon aus, dass sich das politische und gesellschaftliche Klima weiter verhärten dürfte. Das bevorstehende Szenario bietet allen Anlass zu diesem Pessimismus: Nach der Wahl von Lula da Silva warnte das Umfeld von Bolsonaro, dass ihm unter der linken Lula-Regierung die politische Verfolgung und ein Kontroll-Staat drohe. Doch nach den Vorfällen am Sonntag bleiben der Regierung von Lula da Silva und der unter den „Bolsonaristen“ ebenso verhassten Justiz kaum etwas anderes übrig, als breit angelegte Ermittlungen anzustoßen.
Source: faz.net