Venezolaner in Kolumbien: Die vergessene Flüchtlingskrise

Decirehd wühlt im Müll. Im armen Süden Bogotás steht sie auf der regennassen Straße und zieht aus einem Jutesack, der ihr bis zur Brust reicht, Waschmittelverpackungen aus Hartplastik. Sie kratzt mit einem Messer das Etikett ab, wirft den Drehverschluss auf einen Haufen und die Flasche auf einen anderen. Ihre zweijährige Tochter steht neben ihr und umklammert ihre Beine. Das Recycling sei keine leichte Arbeit, sagt Decirehd, aber zumindest eine ehrliche. Sie wühle lieber im Müll als zu betteln oder zu stehlen. Decirehd ist eine fast kindlich wirkende Frau, Anfang 30, und vor dem Hunger in ihrem Heimatland nach Kolumbien geflohen. In Venezuela reichte ihr Gehalt nicht zum Leben. Hier schon, gerade so.

Im Schatten von Ukrainekrieg und Energiekrise wird eine der größten Flüchtlingskatastrophen der Gegenwart oft übersehen: Mehr als sieben Millionen Venezolaner haben in den vergangenen Jahren ihr Land verlassen. Nur aus Syrien und der Ukraine sind vergleichbar viele Menschen geflohen. Rund 80 Prozent der geflüchteten Venezolaner kamen in anderen Ländern der Region unter. Die Vereinten Nationen berichteten im Oktober, dass die Hälfte von ihnen nicht genug Geld für drei Mahlzeiten am Tag hat. Um nicht auf der Straße schlafen zu müssen, betteln viele. Und weil die Wirtschaften Lateinamerikas straucheln, dürfte sich die Lage weiter verschlechtern. Die Vereinten Nationen warnen davor, die Venezolaner und ihre Aufnahmeländer vor lauter anderen Krisen zu vergessen.

Source: faz.net