Claire Keegan: Idylle gab’s hier nie

Ergreifend und voll von Hoffnung: Claire Keegans “Das dritte Licht” ist das Porträt eines sozial prekären, politisch aufgewühlten Landes.

Es
gibt Befunde im Hinblick auf literarische Texte, die mittlerweile so gängig
sind, dass sie fast zum Klischee geworden sind: Einer davon ist beispielsweise
der, dass es weitaus wichtiger ist, was eine Autorin oder ein Autor weglässt
als das, was tatsächlich im Buch verbalisiert wird. Eine andere routinierte
Feststellung ist die, dass hier nun aber wirklich jemand so reflektiert mit
Verknappungen arbeitet, dass jedes Wort, jedes Detail, jede Randbemerkung mit
Bedeutung aufgeladen sei. Wenn man die schmalen Bücher der 1968 geborenen, auf
einer Farm in Irland aufgewachsenen Claire Keegan liest, muss man feststellen,
dass all das auf sie exakt zutrifft. Und das auf eine wirklich bestechende
Weise.

Keegans Roman Kleine Dinge wie diese, der im vergangenen Jahr in der
deutschen Übersetzung von Hans-Christian Oeser erschien, wurde von der Kritik völlig zu Recht
überschwänglich gelobt. Keegan erzählt darin von den sogenannten Magdalenen-Wäschereien, in denen junge Frauen bis in die Neunzigerjahre
mit Wissen und Billigung des Staates gefangengehalten und zur Arbeit gezwungen
wurden. Und vom inneren moralischen Konflikt eines integren Mannes, der nicht
mehr wegschauen will, obwohl ihm das erhebliche Nachteile einbringen wird.

Nun
hat der Steidl Verlag Keegans bereits im Jahr 2010 erschienene, gerade einmal
100 Seiten starke Erzählung Das dritte Licht in einer neuen, überarbeiteten und
ausgesprochen schön ausgestatteten Auflage veröffentlicht, und wenn alles mit
rechten Dingen zugeht, sollte diese Schriftstellerin berühmt werden. Hilfreich
könnte dabei sein, dass Colm Bairéads Film The Quiet Girl, der auf der
Erzählung Das dritte Licht basiert, soeben als erster irischsprachiger Film
überhaupt für einen Oscar nominiert wurde.

Das Buch eröffnet mit einer
sonntäglichen Fahrt über das Land in Richtung irischer Ostküste. Im Auto sitzen
Vater und Tochter. Von einer Idylle kann keine Rede sein: Das erste Dorf, das
die beiden durchqueren, ist jenes, in dem der Vater, wie die Tochter weiß,
kürzlich beim Spiel “unser rotes Kurzhornrind” verloren hat, und erst nach und
nach, wenn sich die wirtschaftlichen Verhältnisse der Familie abzeichnen, wird
deutlich, wie gravierend dieser Verlust war.

Claire Keegan erzählt aus der
Ich-Perspektive des Mädchens, das etwa sieben oder acht Jahre alt und eine
genaue Beobachterin von Details ist, ohne dass diese unmittelbar in einen
historischen oder sozialen Kontext eingeordnet werden. Alles ist auf verblüffend einfache und zugleich kunstvolle Weise indirekt
erzählt. Auch dass die Geschichte zeitlich im Jahr 1981 angesiedelt ist, lässt
sich nur aus einer Nachrichtensendung im Fernsehen rekonstruieren, nach der “wieder einer der Hungerstreikenden gestorben ist.” Foster, so heißt die
Erzählung im Original, was sich sowohl ganz sachlich mit “Pflegevater”, aber
auch mit “Förderer” oder “Beschützer” übersetzen ließe. 

Genau darum geht es: Weil
seine Frau erneut schwanger, das Geld ohnehin knapp ist, bringt der Vater das
Mädchen auf den Hof von entfernten Verwandten, die angeboten haben, sich um das
Mädchen zu kümmern. Die Ankunft bei den Kinsellas, so heißt die Pflegefamilie,
eröffnet dem Mädchen eine neue Welt, was vor allem deshalb erschreckend ist,
weil vermeintliche Selbstverständlichkeiten aus der Perspektive des Kindes mit
ungläubigem Staunen zur Kenntnis genommen werden, was wiederum Schlüsse darüber
zulässt, wie es zuvor aufgewachsen ist.

Es ist ein allmähliches Hineintasten in
eine Atmosphäre der Fürsorge, der Zuneigung, der Aufmerksamkeit, die das
Ehepaar Kinsella dem Mädchen entgegenbringen. Ein heißes Bad wird zum Ereignis.
Die in der Nacht eingenässte Matratze des Kindes wird von der Pflegemutter mit
einer freundlich-launigen Bemerkung beiseite geräumt und gereinigt. Es wird
nicht lange dauern, bis das nicht mehr nötig ist. Noch einmal: Nichts
Spektakuläres geschieht, außer dass ein Kind einen glücklichen Sommer in einem
für ihn fremden Geborgenheitszustand verbringt, in dem jede Zuwendung, jedes
Glas Milch zum exotischen Ereignis wird.

Zugleich ist dieses Buch aus zwei
Gründen weit entfernt von einer Idylle: Zum einen, weil über dem Haus der
Kinsellas ein Schatten liegt; ein traumatisches Erlebnis, das eine schwatzhafte
Nachbarin dem Mädchen gegenüber ausplaudert. Zum anderen, weil man sich auch
als Leser stets des Umstandes bewusst ist, dass dieser Glückszustand ein
provisorischer ist. Anders gesagt: Man fragt sich, in was für ein Leben, in was
für eine Zukunft dieses kluge Kind irgendwann wieder entlassen wird.

Claire Keegan hält die Atmosphäre der Ambivalenz, die ständige Präsenz einer
Bedrohlichkeit, auf diesen knapp 100 Seiten in der Schwebe. Über viele Banden
ist Das dritte Licht das Porträt eines sozial prekären, politisch
aufgewühlten Landes, in dessen Gefängnissen Menschen verhungern und dessen
Kinder einer Existenz in Armut entgegenschauen. Aber, auch das gehört zur
Ambivalenz: All das lässt Claire Keegan offen. Das ist das Hoffnungsvolle und –
ja – auch Ergreifende an ihren Büchern: Aus irgendeinem Grund vertraut Keegan auf
ein Grundgerüst an Integrität, das den Menschen zusammenhält.

 Claire
Keegan: “Das dritte Licht”. Aus
dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl
Verlag 2023, 104 S., 20 €

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