Ein wesentlicher Grund für die Unterschätzung der Inflation im vergangenen Jahr war der Irrglaube mancher Geldpolitiker und Ökonomen, eine deutliche und möglicherweise nur vorübergehende Erhöhung von Preisen für Energie und Nahrungsmittel werde sich nicht im allgemeinen Verbraucherpreisniveau niederschlagen. Die Unhaltbarkeit dieser Einschätzung ließ sich zwar schon während der letzten großen Inflationswelle vor rund einem halben Jahrhundert erkennen.
Die Befürworter dieses Irrglaubens suchten jedoch damals wie heute Argumente, warum die Geldpolitik die Zinsen keineswegs deutlich erhöhen sollte. Nicht zufällig befanden sich unter ihnen in Deutschland vorwiegend Ökonomen, die von einer Abschaffung der Schuldenbremse träumen. Sie setzen sich, sei es auf nationaler oder europäischer Ebene, für weitere schuldenfinanzierte Investitionsprogramme ein und werben für eine Bereitschaft der Zentralbanken, bei Bedarf Schuldnern mit Anleihekäufen zu helfen.
Diese Vertreter des Irrtums würden die Zentralbanken heute gerne davon überzeugen, mit Leitzinserhöhungen bald aufzuhören. Ihr Argument lautet, die Inflationsrate werde im weiteren Jahresverlauf voraussichtlich deutlich zurückgehen, weil die letztjährigen starken Anstiege der Preise für Energie und Nahrungsmittel allmählich aus der Statistik verschwinden. Das ist nicht abwegig, aber leider sind die Vertreter des letztjährigen Irrtums dabei, ein weiteres Mal schiefzuliegen.
Die Kerninflation lastet weiter auf den Verbrauchern
Denn wer Prognosen für die sogenannte Kerninflation betrachtet, die von der Berücksichtigung der schwankungsanfälligen Preise für Energie und Nahrungsmittel absieht, erkennt, dass nach wie vor ein nennenswerter Inflationsdruck auf dem Warenkorb der Verbraucher lastet. Er dürfte noch zunehmen, falls sich die Weltwirtschaft im laufenden Jahr besser entwickeln sollte als bisher prognostiziert.
Die Konjunkturforscher haben jedenfalls ihre pessimistischsten Prognosen längst eingepackt. Die naive Vorstellung, eine Inflationsrate werde, wenn sie einmal zu sinken begonnen habe, bis zur Zielmarke notwendigerweise immer weiter sinken, wird weder durch Theorie noch durch Empirie gestützt.
Die Europäische Zentralbank hatte die Inflation lange unterschätzt, aber mittlerweile hat sie ihren Kurs der Lage angepasst und auch für die Zukunft weitere Leitzinserhöhungen in Aussicht gestellt. Damit traf sie nicht nur einige Ökonomen auf dem falschen Fuß, sondern auch nicht wenige Teilnehmer an den Finanzmärkten, wo man sich überwiegend nicht über deutlich steigende Zinsen freut.
Die Neueinschätzung der Politik der EZB findet ihren Ausdruck am Devisenmarkt. Dort kostet ein Euro mittlerweile 1,08 Dollar, was einer Aufwertung des Euros von rund 10 Prozent seit dem vergangenen Herbst entspricht. Diese Aufwertung hilft heute natürlich im Kampf gegen die Inflation, so wie die vorangegangene Abwertung die Inflation unterstützt hatte.
Ein dritter Irrtum steht im Raum
Der klareren Haltung der EZB ging eine Änderung der Machtverhältnisse im Zentralbankrat voraus. Die Anhänger einer im Zweifel lockeren Geldpolitik, die lange eine Mehrheit bildeten, dominieren nicht länger den geldpolitischen Diskurs der EZB. Chefvolkswirt Philip Lane hat an Deutungsmacht verloren; zu den Gewinnern des Wandels zählen Isabel Schnabel und Joachim Nagel.
Die Vertreter des Irrtums werden bald ein weiteres Argument präsentieren, warum die Geldpolitik den Kampf gegen die Inflation nicht konsequent bis zum Erreichen der Zielmarken von 2 Prozent fortsetzen sollte. Mit der Behauptung, die Kosten einer straffen Geldpolitik für die Konjunktur würden mit der Zeit zu hoch, werden sie dafür plädieren, einfach die Zielmarke der Zentralbanken von derzeit 2 Prozent zu erhöhen.
Dies wäre nun allerdings der dritte Irrtum in Folge, der nicht nur für liberale Ökonomen offensichtlich ist. In Davos hatte mit Larry Summers auch einer der prominentesten Vertreter der keynesianischen Schule vor einer Änderung von Inflationszielen gewarnt, weil damit die Glaubwürdigkeit der Geldpolitik untergraben würde.
Der Geldpolitik würde durch eine stark expansive Finanzpolitik das Geschäft erschwert. Auch aus diesem Grund sind Pläne für weitere schuldenfinanzierte europäische Investitionsfonds sehr kritisch zu sehen. Die EZB muss schließlich auch ihre Bestände an Anleihen deutlich reduzieren. Eine spürbare Zunahme der Verschuldung in der Eurozone steigere jedoch die Gefahr, dass die EZB wieder als Anleihekäufer auftreten müsste. Der Zeitpunkt wäre denkbar schlecht.
Source: faz.net