Wie geht es weiter in den geretteten Dörfern um Lützerath?

Heute ist ein gnädiger Tag, denn der Dunst, der über dem Land liegt, schluckt die Bagger. Man kann sich vorstellen, dass die Wiesen hinter Norbert Winzens Hof einfach weitergehen, dass dort hinten nicht beginnt, was sie hier „das Loch“ nennen. Norbert Winzen dreht sich um, weg von der ein paar Hundert Meter entfernten Abbruchkante, über deren Rand Schaufelradbagger ragen. Sie raubt ihm Kraft, die braucht er aber. Vor ihm liegt sein Dorf, das viele Jahre lang dazu verurteilt schien, Vergangenheit zu werden, und dem er nun eine Zukunft geben will.

Was jahrelang Schmerz bedeutete, für die, die gingen, wie für die, die blieben, soll zu einer Chance werden: fünf Dörfer, fast leer. Große und kleine Häuser, denkmalgeschützte und neuere, Läden, die leer stehen, Kirchen, die keine mehr sind.

Was braucht ein Dorf?

Seit Juni 2022 ist klar, dass die Braunkohle unter Kuckum, Keyenberg, Oberwestrich, Unterwestrich und Berverath nicht gefördert wird und die nah beieinander liegenden Orte im Rheinischen Revier stehen bleiben. Da waren die meisten Bewohner aber schon weggezogen, in die neu gebaute Siedlung ein paar Kilometer entfernt oder ganz woanders hin. Von denen, die noch da waren, taten sich einige zusammen und überlegten: Was braucht ein Dorf? Wie holt man das Leben zurück? Was müsste anders werden als früher, was bewahrt?

F.A.Z.-Serie: Leben auf dem Land :

Was ein Dorf kann, beschreiben Norbert Winzen und Marita Dresen ziemlich ähnlich: ein Gefühl von Zugehörigkeit geben und, ist man Kind, von Aufgehobensein und Freiheit zugleich. Marita Dresen gehört auch zur „Dörfergemeinschaft Kulturenergie“ und zu den wenigen Bewohnern, die ihre Häuser bis zuletzt nicht an den Energiekonzern RWE verkauft haben.

An ihrem Esstisch in Kuckum erzählen beide vom Leben auf dem Dorf, wie es war und wie sie es sich künftig vorstellen. „Man passt aufeinander auf, ist füreinander da“, sagt Marita Dresen. Das zu wissen gab ihr Ruhe, wenn ihre eigenen, jetzt erwachsenen Kinder allein unterwegs waren. Sie selbst hat es zuletzt erlebt, als sie den ehemaligen Stall neben ihrem Elternhaus für sich und ihre Familie ausbaute und viele mit anpackten.

Halt, doch auch Starre

Sie hat nie woanders gelebt und viele Jahre beim Friseur im Ort gearbeitet. Norbert Winzen, der im benachbarten Keyenberg aufwuchs und lebt, erinnert sich an die Freude, unabhängig zu sein, mit Freunden umherzustreifen, und an den Stolz, Teil der Gemeinschaft zu sein, als Mitglied im Musikverein. Der Ernährungswissenschaftler sagt aber auch, dass er, nach einigen Jahren in kleineren und größeren Städten, sich nicht mehr wie zuvor hätte einfügen können in das Dorfleben. Weil die Halt gebende Struktur immer auch mit Starre und Zwängen einhergegangen war, es Hierarchien gab, bestimmte Gruppen die Meinungshoheit hatten, Zugezogene dies für immer blieben.

Als Norbert Winzen wiederkam, bereitete sich das Dorf schon auf sein Ende vor. Von 2016 an organisierte RWE die Umsiedlung. Der Kindergarten schloss, die Kneipe, ein Laden nach dem anderen, Grundstücke am neuen Ort wurden verteilt, die Toten umgebettet, zuletzt hatte die Kirche nicht einmal mehr Glocken. Winzen und seine Familie aber hatten sich entschieden, den stolzen, 160 Jahre alten Vierkanthof nicht aufzugeben und dafür zu kämpfen, dass Keyenberg bleibt.

Tagsüber ein Laden, abends eine Bar

Das künftige Miteinander neuartig zu gestalten ist ein wichtiger Punkt in der Vision der Dörfergemeinschaft, es geht um „echte Teilhabe“, die möglich werden soll. Es gibt die Idee eines Dorfcampus, eines Ortes, an dem alle Anliegen und Pläne besprochen werden, jeder sich gehört fühlt und neue Sichtweisen willkommen sind. Auch kursiert die eines Treffpunkts für alle, der tagsüber ein Laden ist und abends eine Bar.

Winzen und Dresen stellen sich Projekte vor mit Strahlkraft über die Region hinaus: In der mächtigen, entweihten Kirche von Keyenberg könnte es Theatervorstellungen geben und Ausstellungen. Ein erst zwanzig Jahre alter Neubaukomplex könnte zum Dorf für Demenzkranke umgewandelt werden, nach dem Vorbild der Pflegeeinrichtung De Hogeweyk in den Niederlanden. Auch ein SOS-Kinderdorf ist im Gespräch. Wanderwege entlang des Tagebaus ließen sich verbinden mit Informationen über den Ort, an dem der Abschied von der fossilen Energiegewinnung in Deutschland Fahrt aufnahm.

Die Nachbarn sind fast alle weg: Marita Dresen und Norbert Winzen von der „Dörfergemeinschaft Kulturenergie“ im Dorf Kuckum. : Bild: Frank Röth

Je mehr Menschen später die Dörfer frequentieren, desto eher wird es sich lohnen, Geschäfte zu betreiben und Cafés. Mit neuen Formen der Beförderung ließe sich experimentieren, mit „Mitfahrbänken“ an den Dorfausgängen und Bussen, die auf Zuruf kommen. Aus den Braunkohleortschaften könnten Modelldörfer der Energiewende werden, autark in der Stromgewinnung, mit einer Photovoltaikanlage auf jedem Dach und Windrädern in Bürgerhand.

Während Marita Dresen und Norbert Winzen in dem gemütlichen Wohnzimmer mit den alten Holzbalken die Dörfer von morgen entstehen lassen, liegt die Straße draußen still da. Bei vielen Häusern sind die Rollläden heruntergelassen, in manchen brennt an diesem trüben Vormittag Licht. Menschen aus der Ukraine sind in Kuckum untergekommen, auch Bewohner des Ahrtals, deren Häuser die Flut im Sommer 2021 unbewohnbar gemacht hat, manche sind noch immer da. Die alten Nachbarn sind fast alle weg.

Statt Freude das Gefühl: Und jetzt?

Von knapp 1600 Bewohnern in den fünf Dörfern sind um die 200 übrig, es sind die widerständigsten. Marita Dresen entschied sich nach einigen Gesprächen mit dem Umsiedlungs-Büro von RWE, nicht zu verkaufen. Ihr gefiel nicht, wie der Konzern die Umsiedlung handhabt, sie fand, dass die Menschen ganz allgemein nicht gut begleitet wurden auf dem anstrengenden Weg. Auch ihre über 80 Jahre alten Eltern wollten nicht in ein Neubaugebiet vom Reißbrett. Ihr Vater ist inzwischen gestorben, sie hat eine Sondergenehmigung erwirkt, dass er auf dem alten Kuckumer Friedhof bestattet wird. Dort liegt er nun zwischen aufgelassenen Gräbern.

Es waren kräftezehrende Jahre. Als Marita Dresen erfuhr, dass ihr Dorf gerettet ist, habe sie sich nicht richtig freuen können: „Es war mehr das Gefühl: Und jetzt?“ Auch Norbert Winzen sagt, er wisse nicht, wie lang er die Energie noch haben wird, sich immer weiter zu engagieren. Er ist 58, als er zum ersten Mal dagegen demonstrierte, dass der Tagebau Garzweiler II immer mehr Dörfer schluckte, war er noch keine 18. Zugleich fühlen sich beide vom Erfolg beflügelt, er habe sie selbstbewusst und tatkräftig gemacht: „Wenn wir diese Dörfer retten konnten, können wir auch ihre Zukunft gestalten.“

Eine neue Lust auf das Landleben

Es spricht einiges für eine Wiederbelebung der Ortschaften. Die Region ist dicht besiedelt, Städte wie Düsseldorf sind nah. Für junge Familien, denen die Wohnungen dort zu teuer sind, könnten Kuckum, Keyenberg oder Berverath eine Alternative sein. Und auch für die, die sich bewusst gegen ein urbanes Leben entscheiden: Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat eine Trendwende seit dem Jahr 2010 festgestellt. Während die Menschen zuvor bevorzugt in Großstädte zogen, zeigt sich nun eine Präferenz für kleine Ortschaften. Zwei von drei Landgemeinden wachsen mittlerweile, vorher war es umgekehrt, die meisten schrumpften.

Die Digitalisierung hat viele Berufe kompatibel mit dem Landleben gemacht, das eröffnet die Vorteile: Naturnähe, Überschaubarkeit, Platz. Die vom Berlin-Institut untersuchten Wanderungsbewegungen zeigen, dass die meisten Zuzügler in die Dörfer zwischen 30 und 49 Jahre alt sind. Ein Dorfleben, das man nicht fertig vorfindet, sondern mitgestalten kann, könnten viele in diesem Alter interessant finden.

Die Ideen von Dresen, Winzen und ihren Mitstreitern werden nicht von allen geteilt, die noch in den Dörfern leben. Einige sehen bei ihnen eine zu große Nähe zu den Klimaaktivisten, von deren Aktionen sie sich überrollt fühlten, vor allem zuletzt, als rund um die Räumung des benachbarten Lützeraths die Orte zum Basislager für den Protest wurden. Zudem heißt es, die „Dörfergemeinschaft Kulturenergie“ würde die umgesiedelten Bewohner nicht einbeziehen, die an ihrem alten Zuhause oft noch hängen.

Der neue Ort beginnt hinter einem Schild, auf dem die Namen der fünf Dörfer untereinander stehen, mit einem „neu“ in Klammern dahinter. Auch die Straßennamen sind mitgekommen, was regelmäßig zu Verwirrung bei der Postzustellung führt. Alles ist noch im Werden, die Häuser stehen etwas verloren auf kahlen umzäunten Grundstücken.

Wer sein altes Haus zurückkaufen will, werde dies zu angemessenen Konditionen tun können, hat RWE angekündigt. Die Stadt Erkelenz, in die die Ortschaften vor Jahrzehnten eingemeindet wurden, hat für Anfang Februar zu einer Veranstaltung zur Zukunft des „Tagebauumfelds“ eingeladen. Ein Planungsbüro stellt drei Konzepte vor, als Planungsgrundlage. Ideen der Bürger sollen Gehör finden.

Source: faz.net

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