Als der damalige Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) im Juli 2021 den Abschlussbericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus vorstellte, wurde er deutlich. „Der Kampf gegen Antiziganismus verlangt höchste Wachsamkeit“, sagte er. „Ich wünsche mir, dass sich die Bundesregierung und der Bundestag auch in der nächsten Legislaturperiode intensiv diesem Thema widmen. Wir müssen es zu einem Dauerthema machen.“
Die große Koalition hatte die wissenschaftliche Kommission beauftragt, Handlungsempfehlungen zu entwickeln, um Rassismus gegen Sinti und Roma besser entgegenwirken zu können. Unter dem Titel „Perspektivwechsel – Nachholende Gerechtigkeit – Partizipation“ wurden zahlreiche Vorschläge erarbeitet. Darunter war auch die zentrale Forderung nach einer umfassenden Anerkennung des nationalsozialistischen Genozids an Sinti und Roma.
Nach der Befreiung vom Nationalsozialismus sei eine Anerkennung des Völkermords über Jahrzehnte verhindert worden, heißt es im Abschlussbericht. Diese Verweigerung habe zu einer „gravierenden und bis heute andauernden Schlechterstellung“ von Sinti und Roma „auf der Gesetzes- und der Umsetzungsebene in der ‚Wiedergutmachung‘“ geführt. „Die Unabhängige Kommission Antiziganismus fordert daher die Bundesregierung auf, diesen Nachteil umfassend und unmittelbar auszugleichen.“
So solle das Bundesfinanzministerium einen Sonderfonds für nicht in Deutschland lebende Überlebende des NS-Völkermords an Sinti und Roma einrichten, die nach den gesetzlichen Vorschriften der Bundesrepublik bislang keine oder nur geringfügige Entschädigungen erhalten haben. „Diejenigen, die die Anspruchsvoraussetzungen erfüllen, sollen laufende Leistungen erhalten. Den Überlebenden muss ein Leben in Würde ermöglicht werden.“
Regierung will NS-Opfer „differenziert“ entschädigen
Die Ampel-Koalition möchte diese Forderung nicht umsetzen. „Die Bundesregierung beabsichtigt keine Änderung der bisherigen Entschädigungspraxis“, heißt es in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linke-Bundestagsfraktion. Die Antwort liegt WELT vor. In einer Vorbemerkung der Bundesregierung zu der Anfrage heißt es: „Angesichts der Unmöglichkeit, für sämtliches während der NS-Herrschaft verübtes Unrecht in vollem Umfang eine finanzielle Entschädigung zu gewähren, musste der Gesetzgeber von Anfang an auch bei der Regelung der Entschädigung für Opfer der NS-Verfolgung Differenzierungen hinsichtlich des Personenkreises, der Art und des Umfangs der Leistungen vornehmen.“
Sevim Dağdelen, Sprecherin der Linken im Bundestag für internationale Politik, übt angesichts der Antwort harsche Kritik. „Dieser Umgang mit den letzten Überlebenden des NS-Terrors ist beschämend. Mit der faktischen Entschädigungsverweigerung knüpft die Bundesregierung an antiziganistische Vorurteile der Vergangenheit an“, sagte sie WELT. Die Bundesregierung müsse sich der Verantwortung der eigenen Geschichte stellen und die Empfehlungen der Antiziganismus-Kommission nicht mehr auf die lange Bank schieben. „Der Genozid an Sinti und Roma darf nicht länger eine Fußnote in der deutschen Erinnerungspolitik sein“, so Dağdelen weiter.
Vorsichtige Kritik kommt auch vom Antiziganismus-Beauftragten der Bundesregierung, Mehmet Daimagüler. Er sagte: „Die Unabhängige Kommission Antiziganismus beschreibt überzeugend die Schlechterstellung von Sinti und Roma auf der Gesetzes- und der Umsetzungsebene in Fragen der ‚Wiedergutmachung‘. Ich teile Analyse und Schlussfolgerung der Expertinnen und Experten der Unabhängigen Kommission.“
Noch 1956 sprach BGH von „Zigeunerplage“
Nicht in Deutschland lebende Überlebende des NS-Völkermords an Sinti und Roma werden bei der Praxis der Entschädigung gegenüber nicht in Deutschland lebenden jüdischen Überlebenden deutlich benachteiligt. Während nichtdeutsche jüdische Überlebende monatliche Leistungen in Höhe von rund 350 bis 600 Euro erhalten können, haben nichtdeutsche Sinti und Roma lediglich Anspruch auf eine Einmalzahlung von knapp 2600 Euro. Es geht um eine kleine Zahl von Überlebenden: Zwischen 2010 und 2018 hatten gerade einmal 338 nichtjüdische Verfolgte ohne deutsche Staatsangehörigkeit einen Antrag auf Entschädigung gestellt. Keiner von ihnen bekam monatliche Leistungen. Viele der Überlebenden in Mittel-, Ost- und Südosteuropa sind bedürftig.
Noch im Jahr 1956 hatte der Bundesgerichtshof (BGH) die rassistisch motivierte Verfolgung von Sinti und Roma bis 1943 als legitime polizeiliche Maßnahme gerechtfertigt. Wegen der Eigenart des Volkes habe es schon immer Maßnahmen gegen die „Zigeunerplage“ gegeben, heißt es in dem Urteil, das damit zentrale Legitimationsmuster der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik übernahm. Im Jahr 2015 sagte die BGH-Präsidentin Bettina Limperg, dass man sich für diese Rechtsprechung „nur schämen“ könne.
Während des Nationalsozialismus wurden zwischen 220.000 und 500.000 Sinti und Roma ermordet. In den Nachfolgestaaten des Deutschen Reichs setzte sich die Stigmatisierung lange fort. Eine signifikante Aufarbeitung des Völkermords begann erst in den 1990er-Jahren.
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Source: welt.de