Spielzeug als Lockvogel – plötzlich setzen auch Aldi & Lidl auf Brettspiele und Co.

Bier ist ein klassisches Lockvogelprodukt für die Supermärkte und Discounter in Deutschland. Zu billigen Preisen stehen die Kisten bekannter Markenhersteller Woche für Woche prominent platziert auf den Angebotszetteln des Lebensmitteleinzelhandels. Sie sollen die Kunden in den jeweiligen Laden lotsen, wo sie dann natürlich mehr kaufen als nur ein oder zwei Bierkisten.

Gleiches gilt seit jeher auch für eine Reihe anderer Artikel von Kaffee über Butter bis hin zu Nudeln. Und seit einiger Zeit probieren die Händler dieses Prinzip auch mit Spielzeug.

Seit dem Boom in den Corona-Jahren, als die Umsätze der Spielwaren-Branche nach ohnehin schon guten Jahren nochmals einen merklichen Sprung gemacht und sich der Fünf-Milliarden-Euro-Marke genähert haben, interessieren sich auch Aldi, Lidl und Co. verstärkt für Brettspiele, Puzzles, Lego-Sets und Modellautos.

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„Der Handel nutzt Spiele als Frequenztreiber“, bestätigt Matthias Kienzle, der Geschäftsführer Spielware des für unter anderem Experimentierkästen und Brettspiele wie Siedler von Catan oder die Exit-Reihe bekannten Kosmos Verlags. Und jenseits von Weltkonzernen wie Lego und Mattel nehmen vorwiegend mittelständischen Hersteller diese Gelegenheit auch gerne wahr, um die über Jahre hinweg gestiegene Abhängigkeit von großen Onlinehändlern zu reduzieren und quasi im Vorbeigehen zwischen Hackfleisch, Konservendosen und Toilettenpapier gute Verkäufe zu erzielen.

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Eine Win-win-Situation also für beide Seiten. Vermeintlich jedenfalls. Denn das mit den guten Verkäufen scheint aktuell vorbei zu sein. Zwar trägt die Spielwaren-Branche seit Jahrzehnten das Mantra vor sich her, dass in den deutschen Haushalten bei Kindern zuletzt gespart wird.

Inflation und Energiekrise haben diese These nun allerdings widerlegt. Das zeigen Zahlen der Marktforscher von NPD-Eurotoys. Danach ist der Spielzeugmarkt hierzulande 2022 um immerhin fünf Prozent geschrumpft.

Volle Spielzeug-Lager

Und dieses Ergebnis ist schon aufgehübscht durch Preisaufschläge, die Experten zufolge bei durchschnittlich drei bis fünf Prozent gelegen haben. Vor allem das Weihnachtsgeschäft hat nicht gehalten, was sich Handel und Industrie versprochen haben.

Und das wird jetzt zum Problem. Kamen die Hersteller 2021 angesichts von Materialengpässen und Logistikproblemen kaum hinterher mit der Produktion und mussten deswegen die verfügbare Ware den Geschäften und Versendern vielfach sogar zuteilen, sind die Läger derzeit vielerorts proppenvoll – und zwar sowohl bei der Industrie als auch im Handel. Marktbeobachter rechnen daher in den kommenden Wochen und Monaten mit aggressiven Angeboten vor allem bei den eigentlich branchenfremden Lebensmittelhändlern, die in ihren Verteilzentren Platz schaffen müssen. Gleichzeitig ist der Nachschub-Bedarf erst mal gering.

Daher könnte es bis weit in die zweite Jahreshälfte 2023 dauern, bis die Spielwarenbranche wieder richtig Fuß fasst. Denn aufgrund der hohen Inflation ist die Kauflaune aktuell weiterhin gedämpft. Und die Konkurrenz ist groß, denn die Konsumenten haben wieder reihenweise Alternativen.

„Corona hat es geschafft, mehr Menschen zum Spielen zu bringen. Mit der Öffnung haben sich dann aber die Prioritäten verschoben, noch dazu gab es viel nachzuholen. Ich selbst war noch nie in so kurzer Zeit auf so vielen Konzerten“, beschreibt Kosmos-Chef Kienzle im WELT-Gespräch. Dennoch bleibt er zuversichtlich. „2023 wird ein eher unsicheres Jahr, wir hoffen aber weiterhin auf einen weitgehend stabilen Markt.“

Neuheiten und Innovationen auf der Spielwarenmesse

Welche Neuheiten und Innovationen der Branche dabei als Hoffnungsträger dienen, hat dieser Tage die internationale Spielwarenmesse in Nürnberg gezeigt. Kosmos zum Beispiel setzt unter anderem auf den Roboter Miika, mit dem Kinder Programmieren und das Prinzip Künstliche Intelligenz (KI) verstehen lernen können, und dazu auf das Kugelbahnsystem Gecko Run, das vertikal aufbaubar ist und an Wänden, Türen und Regalen haftet.

„Damit bleibt der Boden im Kinderzimmer frei“, beschreibt Kienzle. Der Figurenhersteller Schleich wiederum zielt auf die große Fanbasis von Harry Potter. Im zweiten Halbjahr 2023 bringt er eine neue Produktserie mit sechs Hauptfiguren aus den Harry-Potter-Geschichten, vor allem aber deren tierische Begleiter, darunter Harry und Hedwig, Ron und Krätze, Hermine und Krummbein, aber auch Hagrid und Fang sowie Seidenschnabel, Firenze und den Hungarian Horntail. Im Blick hat der Mittelständler aus Schwäbisch Gmünd dabei sowohl Kinder als auch Sammler.

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Auch Ravensburger geht neue Wege und steigt ab Herbst in das globale Geschäft für sogenannte Trading Cards ein. Lorcana heißt das Sammelkartenspiel, bei dem das Familienunternehmen mit Disney kooperiert. Der Name ist eine Kombination aus den Worten Lore und Arcana, die übersetzt für Legenden und Magie stehen.

Die Spieler schlüpfen dabei in die Rolle von mächtigen Zauberern, die Disney-Charaktere von Micky Maus über Elsa und Mulan bis hin zu Käpt’n Hook, Robin Hood und Prinzessin Aurora zum Leben erwecken. „Das ist eins der größten und ambitioniertesten Projekte bei Ravensburger“, sagt Clemens Maier, der geschäftsführende Gesellschafter des Mittelständlers aus dem südlichen Oberschwaben.

Das Sammelkartenspiel „Lorcana“ ist aus einer Kooperation von Ravensburger mit Disney entstanden
Quelle: pa/dpa/Felix Kästle

„Mehrere Millionen Euro Kosten“ stecken Maier zufolge in dem Projekt. Allerdings will Ravensburger damit auch auf einen Multi-Milliardenmarkt weltweit Fuß fassen, der aktuell von Pokémon dominiert wird. Spielidee und Grafik stammen von Ravensburger, Disney wiederum liefert die Figuren und seinen berühmten Namen. „Ohne einen Partner wie Disney würden wir in diesen Markt nicht antreten“, sagt Maier mit Verweis auf hohe Eintrittsbarrieren.

Ravensburger will sich mit Lorcana noch breiter aufstellen und zugleich das internationale Geschäft vorantreiben. Und wie süß sich weltweiter Erfolg anfühlen kann, hat erst die Corona-Pandemie gezeigt. Damals gab es Titelgeschichten über Ravensburger und deren Brettspiele und Puzzles Made in Germany in der „New York Times“ und im „Wall Street Journal“.

Brettspiele für Ravensburger weiterhin wichtig

Aber auch der Branchenriese merkt den aktuellen Abschwung: Um sechs Prozent auf 598 Millionen Euro sind die Umsätze im Geschäftsjahr 2022 eingebrochen. Beunruhigt ist Firmenchef Maier indes nicht. „Wir liegen immer noch 14 Prozent über dem Vor-Pandemie-Level.“

Dass Ravensburger dabei weniger mit neuen Brettspielen als vielmehr mit Puzzles und vor allem dem digitalen Lernstift Tiptoi, der Kugelbahn Gravitrax und nun mit Lorcana für Aufmerksamkeit sorgt, will Maier nicht überinterpretiert wissen. „Brettspiele bleiben für uns sehr wichtig“, versichert der Unternehmer.

Clemens Maier ist Vorstandsvorsitzender der Ravensburger AG
Quelle: pa/dpa/Felix Kästle

Zum einen würden Klassiker mit neuen Versionen immer wieder aktuell gehalten, seien es Memory, Das verrückte Labyrinth oder Scotland Yard. Zum anderen hat sich die Marke mit dem blauen Dreieck an der Plattform Gamefound beteiligt. Dort werden der Community Spiele-Projekte vorgestellt und Geld wie beim Crowdfunding eingesammelt für komplexe Kenner- und Strategiespiele, die Ravensburger üblicherweise unter dem Label Alea vertreibt.

„Das ist für uns eine Art Marktforschungstool“, beschreibt Maier. Erstes Projekt werde in Kürze eine Spezialversion von „Burgen von Burgund“, für die mittlerweile knapp 23.000 Spieler an die drei Millionen Euro zugesagt habe.

Denkriesen-Spiel im Aldi-Supermarkt

Dass im Markt für Gesellschaftsspiele aber auch schon kleine Budgets zum Erfolg führen können, beweist derzeit das Unternehmen Denkriesen aus Quickborn bei Hamburg. Aus einer Bierlaune heraus haben die beiden Gründer Denis Görtz und Ricardo Barreto im Camping-Urlaub das Trinkspiel „Klattschen“ entwickelt und ohne Hilfe von Fachhandel oder Verlagen per Online-Vertrieb zum Hit gemacht.

Aus den Erlösen haben sie dann „Stadt Land Vollpfosten“, eine moderne Version von „Stadt Land Fluss“, entwickelt und herausgebracht, aber auch Spiele wie „Freunde versenken“ und ganz aktuell „Humbug“. Verkauft werden Denkriesen-Spiele mittlerweile bei praktisch jedem Spielzeughändler – und zuletzt auch beim Discounter Aldi. „Wir wollten damit unsere Bekanntheit noch mal steigern“, sagt Geschäftsführer Barreto im WELT-Gespräch.

Das neue Denkriesen-Spiel Humbug auf der weltgrößten Spielwarenmesse in Nürnberg
Quelle: pa/HMB Media/Schumacher/Boris Schumacher

Der Stolz über diese Kooperation ist dabei nicht zu überhören. „Man merkt, dass wir im Markt nicht mehr nur der Kleine sind, der mitspielen will.“ Auch Übernahmeangebote trudeln mittlerweile regelmäßig ein. Die Eigentümer wollen aber nicht verkaufen. „Dafür sind wir viel zu jung. Außerdem haben wir noch viel vor.“

Ziel sei es, in den kommenden fünf Jahren in jedem Haushalt in Deutschland vertreten zu sein. Bislang geht es tatsächlich steil bergauf bei Denkriesen. Selbst im Krisenjahr 2022 ist der Umsatz um stattliche 15 Prozent gestiegen auf mittlerweile 14 Millionen Euro, für 2023 hat sich das Label weitere 20 Prozent Wachstum vorgenommen.

Zum Prinzip gehören dabei das Motto „Auspacken und losspielen“ mit möglichst leichten Spielregeln und die Positionierung im Impulssegment mit Preisen meist unter 20 Euro. Da greifen dann auch die Kunden im Supermarkt spontan und ohne großes Überlegen zu.

Spieleentwickler aus dem Ausland

Denkriesen ist aber nur ein Beispiel für eine wachsende Vielfalt im Markt für Gesellschaftsspiele. Auch aus dem Ausland kommt jetzt Konkurrenz.

„Belebt wird die Branche durch den intensiven Austausch zwischen den internationalen Verlagen und Autoren“, heißt es vom Verband Spieleverlage. In den deutschen Regalen fänden sich mittlerweile viele Titel, die ihren Ursprung bei ausländischen Verlagen haben.

Dazu scheint sich Spieleentwickler als Berufsbild zu etablieren. „In den vergangenen Jahren ist der Wettbewerb im Brettspielmarkt größer geworden, weil es immer mehr Spieleentwickler gibt. Und die drängen mit ihren Ideen natürlich auf den attraktiven deutschen Markt. Davon profitieren auch kleine Verlage“, stellt Kosmos-Geschäftsführer Kienzle fest. „Dazu bieten sich online ganz andere Vermarktungswege an mit deutlich niedrigeren Hürden und Einstiegsschwellen.“

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Source: welt.de

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