Spitznamen sind oft verräterisch. Unter sich nannten die Ordonnanzen in Hitlers Adjutantur, die vor allem die Reisen des „Führers und Reichskanzlers“ zu organisieren hatten, Unity Mitford gern „Mitfahrt“. Denn seit die gerade 20-jährige Britin am 9. Februar 1935 in der „Osteria Bavaria“ in München-Schwabing zum ersten Mal persönlich Adolf Hitler kennengelernt hatte, gehörte sie zu den regelmäßigen Gästen seiner Reisen. Zur Entourage im weiteren Sinne – eine Funktion hatte sie natürlich nicht.
Das erste Treffen beschrieb Unity ihrer Schwester Diana gleich am folgenden Tag in einem langen Brief: „Ich stand auf und ging zu seinem Tisch. Er erhob sich und schüttelte mir die Hand. Wir sprachen mindestens eine halbe Stunde miteinander. Du kannst dir vorstellen, wie ich mich fühlte. Ich bin so glücklich. Ich glaube, dass ich das glücklichste Mädchen der Welt bin.“
Allerdings war das Treffen in Hitlers Münchner Stammlokal keineswegs ein Zufall. Unity hatte die Begegnung vielmehr zielstrebig herbeigeführt; sie war so etwas wie das englische Groupie des „Führers“.
Die am 8. August 1914, wenige Tage nach Beginn des Ersten Weltkrieges, geborene Tochter von Lord Redesdale gehörte zum inneren Kreis der britischen Oberschicht. Ihr Vater, mit bürgerlichem Namen David Freeman-Mitford, war Mitglied des Oberhauses. Seit Unity 1932 auf ihrem ersten Ball mit Sir Oswald Mosley den Anführer der britischen Faschisten kennengelernt hatte, schwärmte sie für die kraftvolle politische Bewegung, die gerade überall in Europa auf dem Vormarsch war.
Ähnlich wie ihre ältere Schwester Diana, die mit Mosley zusammenlebte. Sie nahm Unity im Spätsommer 1933 mit nach Nürnberg – als offizielle Abgesandte ihres Partners zum ersten Reichsparteitag der NSDAP nach der Machtübernahme. Hier wurden die beiden jungen Engländerinnen von Reichspressechef Ernst Hanfstaengl betreut. Doch die britischen Faschisten waren zu unbedeutend, als dass Unity Hitler hätte nahekommen können: Rudolf Heß teilte auf Hanfstaengls Bitte um ein Treffen mit, der „Führer“ sei zu beschäftigt.
Doch eine Unity Mitford schreckte das nicht ab. Zwar reisten die beiden Schwestern nach dem Parteitag wieder ab, doch die noch minderjährige Unity nutzte schon die nächste Gelegenheit, nach Deutschland zurückzukehren: Im Oktober 1934 zog sie mit Zustimmung ihres Vaters nach München, um Sprachen zu studieren. Sie mietete sich in einem Wohnheim für Studentinnen ein, fußläufig zur Ludwig-Maximilians-Universität. Aber weder immatrikulierte sie sich, noch nahm sie an den Deutschkursen teil, für die sie Gasthörer-Gebühren entrichtete.
Denn eigentlich wollte Unity in München vor allem eines: Hitler kennenlernen. Angeblich bei einem Friseur im Stadtteil Bogenhausen brachte sie in Erfahrung, wo sie ihm begegnen könne – nämlich in der „Osteria Bavaria“ in der Schellingstraße. Tatsächlich gehörte dieses Lokal schon seit 1920 zu Hitlers Lieblingsrestaurants. Seit dem Aufstieg seiner Partei war stets ein geschützt gelegener Tisch für ihn reserviert.
Natürlich konnte Unity nicht wissen, wann Hitler hierher kommen würde. Einerseits hielt er sich inzwischen öfter in Berlin und auf dem Obersalzberg als in Bayerns Landeshauptstadt auf – in den drei Monaten zwischen dem 1. November 1934 und dem 31. Januar 1935 zum Beispiel 40 Tage in der Reichshauptstadt, 35 Tage in den Alpen und nur zehn Tage in München. Andererseits wurden nur Hitlers offizielle Auftritte bekannt gegeben, nicht aber private Termine – schon aus Sicherheitsgründen.
Also besuchte Unity die „Osteria Bavaria“ einfach regelmäßig. Obwohl sie mit ihrer außergewöhnlichen Größe von fast 1,80 Meter, dem kräftigen blonden Haar und ihren strahlend blauen Augen unübersehbar war, wurden weder der Wirt der „Osteria“ misstrauisch noch der Reichssicherheitsdienst, Hitlers persönlicher Personenschutz. Am 9. Februar 1935 kam es zur erhofften Begegnung. Unity fiel Hitler auf, und er schickte seinen Adjutanten, um die junge, gut aussehende Dame an seinen Tisch zu bitten. Es war der Beginn einer überraschend engen, gleichwohl immer platonischen Beziehung.
Offenbar gefiel es Hitler, sich mit der Britin zu unterhalten, die inzwischen recht gut Deutsch sprach. Obwohl gerade erst Anfang zwanzig und in jeder Hinsicht unerfahren, wirkte sie durch ihre elitäre Erziehung und ihr ausgeprägtes Selbstbewusstsein weltgewandt und souverän. Laut ihren eigenen Aufzeichnungen traf sie Hitler zwischen Februar 1935 und August 1939 mehr als hundertmal, also durchschnittlich alle zwei Wochen. Sie besuchte ihn, wenn er in München war, wurde zu den Olympischen Spielen eingeladen, nach Bayreuth mitgenommen. Niemand außerhalb des engsten Kreises des „Führers“ hatte auch nur entfernt ähnlich viele Begegnungen.
Zugleich aber hatte Unity ein Problem: Ihr britischer Pass lief am 11. September 1935 ab. Ohne gültiges Ausweisdokument konnte sie nicht in Deutschland bleiben; sie wollte aber nicht zurück. Also versuchte sie es mit einem Trick: Sie behauptete, ihren Pass „im vergangenen Monat“ verloren zu haben. So schrieb sie es in ihren Antrag auf Ausstellung eines neuen Aufenthaltsdokuments an das britische Konsulat.
Als Wohnadresse gab sie das Studentinnenheim an, als ihre Vornamen „Unity Walküre“, was jemand mit anderer Handschrift zu „Unity Walkyre“ korrigierte. Offensichtlich dachte und fühlte sie schon so deutsch-wagnerisch, dass sie ihren zweiten Namen Valkyrie falsch schrieb – ob bewusst oder versehentlich, ist unbekannt. Um den neuen Pass zu bekommen, musste sie trotzdem nach London zurück. Spätestens am 23. Oktober 1935 war sie wieder in Deutschland, diesmal in Begleitung ihres Vaters, den sie auch zum Tee in der Berliner Reichskanzlei mitnahm.
Inzwischen hatte die Münchner Polizei die britische Bekannte des Diktators überprüft. Doch nach umfangreichen Erkundigungen sah die Gestapo keinen Anlass zur Sorge: „Die Feststellungen über die Tätigkeit der Mitford, Unity ergaben keinerlei Anhaltspunkte, die den Verdacht der Spionage oder unerlaubter politischer Umtriebe rechtfertigen würden. Mitford soll tatsächlich begeisterte Nationalsozialistin sein.“
Hitler empfand es ähnlich – er redete in ihrer und der Anwesenheit ihrer Schwester Klartext: „Nachher noch beim Führer mit den Mitfords“, notierte Joseph Goebbels in sein Tagebuch: „Er spricht über Juden- und Bolschewistengefahr. Er wird sie in Deutschland niederhalten. Mag die Welt tun, was sie will.“
Sogar eifersüchtig wurde der Propagandaminister: „Die Mitfords. Langweilig wie immer“, notierte er am 21. Juli 1936 – eine typische Reaktion für ihn, wenn er sich von Hitler zu wenig beachtet fühlte. Und knapp anderthalb Jahre später hielt er genervt fest: „Beim Mittagessen ist die Mitford dabei. Sie schimpft ganz ungeniert auf Mussolini.“ Verärgert notierte Goebbels: „Ich kann nicht verstehen, dass der Führer sich das gefallen lässt.“
Über die Natur der Beziehung zwischen Unity und Hitler grübelte auch die britische Kriminalpolizei. Die Special Branch von Scotland Yard ließ ihr Gepäck überprüfen, wann immer sie von Deutschland nach London zurückkehrte. In den kurzen Berichten darüber firmierte die junge Frau unter anderem Ende Februar 1937 als „weithin bekannte Nazi-Anhängerin“. Sie führte NS-Zeitschriften und Bücher mit sich, außerdem mehrere signierte Porträtfotos Hitlers: das liebste Geschenk, das „Führer“ machte. Ende April 1937 wurde sie erneut vom britischen Zoll überprüft. Abermals wurden NS-Schriften gefunden, obendrein trug Unity Mitford ein Mitgliedsabzeichen der NSDAP.
In Wirklichkeit gehörte sie gar nicht zu Hitlers Partei. Allerdings nur, weil sie nicht beitreten durfte: Laut den Richtlinien der Reichsschatzmeisterei konnten nur „arische“ Deutsche über 18 Jahren zur NSDAP gehören. Als Britin war Unity also ausgeschlossen. Trotzdem hatte sie ein Parteiabzeichen, allerdings ein spezielles: Hitler persönlich hatte es angefordert, auf der Rückseite war ihr Name eingraviert. So wichtig war ihr dieses Abzeichen, dass sie sich auf einem Studiofoto damit ablichten ließ.
Unitys Verhältnis zu Hitler blieb eng – das zeigt ein Blick auf den Juli 1938. Am zweiten Wochenende des Monats war sie Ehrengast im „Führerbau“ am Münchner Königsplatz; am 15. Juli aßen Hitler und sie zusammen (natürlich in der „Osteria Bavaria“), vier Tage später empfing er sie zum Tee auf dem Berghof. Anschließend besuchten beide zusammen vom 23. bis 28. Juli die Bayreuther Festspiele. Am 30. Juli bestieg Unity Hitlers Sonderzug und fuhr mit ihm zu einem Appell nach Breslau; anschließend flog sie in der „Führer“-Maschine zurück nach Berchtesgaden.
Inzwischen wurde sogar Eva Braun neidisch, denn mit Unity zeigte sich Hitler in der Öffentlichkeit – anders als mit ihr. Die beiden fast gleichaltrigen Frauen kannten sich flüchtig vom Nürnberger Parteitag 1937, wo sie nebeneinander platziert worden waren. Formal vorgestellt wurden sie einander aber erst in privater Umgebung auf dem Berghof im Mai 1939.
Doch eigentlich brauchte sich Eva Braun keine Sorgen zu machen: Unity Mitford verehrte Hitler, aber mehr war es nicht. Rückblickend sagte ihre ältere Schwester Diana, die 1936 im Berliner Privathaus von Joseph Goebbels ihren Lebensgefährten Oswald Mosley geheiratet hatte: „Unitys Bewunderung und Zuneigung zu Hitler waren grenzenlos, aber sie war nicht in ihn verliebt.“
Um ihrem Idol politisch noch näher zu sein, plante sie, die britische Staatsbürgerschaft aufzugeben und Deutsche zu werden. Doch das war nicht mehr möglich: Am 1. September 1939 überfiel die Wehrmacht auf Hitlers Weisung Polen, zwei Tage später erklärten Großbritannien dem Dritten Reich den Krieg. Für Unity Mitford eine unerträgliche Situation. Sie schoss sich am Rande von Münchens Englischem Garten eine Kugel in den Kopf.
Der Suizidversuch misslang. Hitler besuchte sie im Krankenhaus, bevor Unity im Dezember 1939 in die neutrale Schweiz verlegt wurde. Im Frühjahr 1940 kam sie zurück nach Großbritannien. Sie hatte eine schwere Hirnverletzung davon getragen, vergleichbar einem Schlaganfall. An den Folgen starb Unity Mitford im Alter von 33 Jahren 1948.
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Source: welt.de