Kandidiert Joe Biden für eine zweite Amtszeit? Selbst vielen Demokraten macht diese Vorstellung Angst. Doch in den vergangenen beiden Tagen hat der US-Präsident sogar seine Kritiker positiv überrascht.
Joe Biden ist beim Wahlvolk nicht übermäßig beliebt. Je nach Umfrage sind zwischen 44 und 55 Prozent der Menschen mit der Amtsführung des US-Präsidenten unzufrieden. Und selbst von denen, die zufrieden sind, wollen nicht alle, dass Biden bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr erneut antritt. Nicht einmal eine Mehrheit der Demokraten will das. Viele befürchten, dass der 80-Jährige im direkten Duell gegen einen republikanischen Herausforderer oder eine Herausforderin keine Chance hätte. Auch, weil sie ihn einfach für zu alt halten.
Interviews mit Umfrageteilnehmern deuteten darauf hin, dass nicht wenige Wahlberechtigte Bidens Alter für eine Belastung halten, berichtete die Nachrichtenagentur Associated Press (AP) Anfang der Woche. Die Menschen konzentrierten sich auf sein Husten, seinen Gang, seine Ausrutscher und die Möglichkeit, dass der stressigste Job der Welt besser für jemand Jüngeren geeignet wäre. “Ich bin ehrlich gesagt der Meinung, dass er zu alt ist”, zitierte AP Sarah Overman, eine 37 Jahre alte Demokratin, die im Bildungswesen in Raleigh in North Carolina, arbeitet. “Wir könnten jemanden Jüngeren im Amt gebrauchen.”
“Sein Alter und möglicherweise auch seine geistige Schärfe entsprechen nicht dem, was ich mir für den Führer des Landes wünschen würde”, sagte der 35 Jahre alte Anwalt Ross Truckey aus Michigan der Nachrichtenagentur. “Er scheint manchmal ein alter Mann zu sein, der seine besten Jahre hinter sich hat. Manchmal habe ich ein wenig Mitleid mit dem Kerl, der sich vor die Menschenmassen drängt.”
Biden gibt sich schlagfertig und kämpferisch
Diesen Eindruck konnte Biden in den vergangenen beiden Tagen bei so manchem Skeptiker widerlegen, vor allem mit seiner Rede zur Lage der Nation. Biden habe sich als “Elder Statesman” präsentiert, der in der Lage sei, über die Parteigrenzen hinweg zu arbeiten, urteilte die “Washington Post” am Mittwoch. Gleichzeitig sei er als “gewiefter Politiker mit festen Überzeugungen” aufgetreten. Nach einem “wackligen Start” habe Bidens Rede an Schwung gewonnen, schrieb die “New York Times”. “Tatsächlich nutzte er die größte Bühne seiner Präsidentschaft als Gelegenheit, um seine Vision, seine Bilanz und seine Agenda für die Wahlen 2024 zu verkaufen.”
Was für viele womöglich noch wichtiger ist als diese Vision: Biden ließ bei seinem Auftritt im US-Kongress sein Alter vergessen. Der Präsident hielt eine kämpferische Rede, in der er sich auch von Störern in den Reihen der Republikaner nicht aus dem Konzept bringen ließ. Im Gegenteil: Schlagfertig konterte der 80-Jährige “Lügner”-, “Nein”- und Buh-Rufe, die unter anderem von der ultrakonservativen Abgeordneten Marjorie Taylor Green ertönten, als er andeutete, einige Republikaner wollten die Sozialversicherung und die Krankenversicherung Medicare abschaffen. “Leute, wir sind uns offenbar alle einig, dass die Sozialversicherung und Medicare jetzt von der Streichliste runter sind, richtig? Sie dürfen nicht angerührt werden? Alles klar. Also gut. Wir haben Einstimmigkeit!” deutete Biden die Zwischenrufe zu seinen Gunsten, als sei damit eine heftige politische Meinungsverschiedenheit live im Fernsehen beigelegt worden.
“Joe Biden geht mit der Menge ins Sparring und gewinnt, das habe ich nicht erwartet”, twitterte der ehemalige republikanische Abgeordnete Adam Kinzinger, der Anfang des Jahres den Kongress verlassen hatte. “Biden zeigte, dass er für einen Kampf bereit war und, offen gesagt, noch ein paar Aufwärtshaken in ihm stecken”, schrieb die US-Nachrichtenseite “Politico”. Und sogar David Axelrod, ehemaliger Berater von Barack Obama und eher als Biden-Skeptiker bekannt, stellte fest: “Die Energie der Rede, vor allem die freudige Auseinandersetzung mit den republikanischen Zwischenrufern, war eine kraftvolle Erwiderung auf diejenigen, die seine geistige Schärfe in Frage stellen.”
Noch deutlicher formulierten es die “Politico”-Kommentatoren: “In seiner Rede zur Lage der Nation […] tat Biden etwas weitgehend Unerwartetes”, schrieben sie. “Er linderte die mentalen Ängste dieser insgeheim nervenzerrütteten, verrufenen Bettnässer-Demokraten – zumindest für einen Moment.”
Präsidentschaftskandidatur
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Am Mittwoch verpasste Biden der Grand Old Party weitere Aufwärtshaken. “Meine republikanischen Freunde schienen schockiert zu sein, als ich die Pläne einiger ihrer Mitglieder und ihrer Fraktion zur Kürzung der Sozialversicherung ansprach und Marjorie Taylor und andere aufstanden und sagten: ‘Lügner, Lügner'”, lästerte der Präsident bei einer Veranstaltung in DeForest im Bundesstaat Wisconsin. Dann wies er auf einen Plan des republikanischen Senators Rick Scott aus dem vergangenen Jahr hin: “Ich habe seine Broschüre hier”, rief Biden während er das Papier hochhielt und dann daraus vorlas: “Alle Bundesgesetze verfallen alle fünf Jahre. Wenn ein Gesetz es wert ist, beibehalten zu werden, kann der Kongress es erneut verabschieden.” Das würde auch für Programme wie die Sozialversicherung und Medicare gelten, so der Präsident.
“Es hat ihnen gar nicht gefallen, dass ich sie darauf angesprochen habe”, legte Biden nach. “Sehen Sie, viele Republikaner träumen davon, die Sozialversicherung und Medicare zu kürzen. Nun, lassen Sie mich nur Folgendes sagen. Es ist ihr Traum, aber ich werde ihn mit meinem Veto in einen Albtraum verwandeln.”
“Die Leute unterschätzen Joe Biden ständig”
Biden ist bereits jetzt der älteste Präsident in der Geschichte der USA. Schon während des Wahlkampfes 2020 war er mit Bedenken wegen seines Alters konfrontiert worden und diese wurden während seiner gut zwei Jahre im Weißen Haus nicht weniger – vor allem in Hinblick auf eine mögliche weitere Kandidatur. Sollte er erneut antreten und gewählt werden, wäre er am Ende seiner zweiten Amtszeit 86 Jahre alt. Doch nach seiner Rede zur Lage der Nation bekam Biden sogar von seinem größten politischer Gegner ein Kompliment: “Ich stimme mit ihm in den meisten Punkten seiner Politik nicht überein, aber er hat in Worte gefasst, was er fühlt, und er hat den Abend viel stärker beendet, als er ihn begonnen hat. Das muss man ihm hoch anrechnen”, schrieb Ex-Präsident Donald Trump in seinem Netzwerk Truth Social.
“Die Leute unterschätzen Joe Biden ständig”, zitiert “Politico” Kelly Dietrich, ein ehemaliger Geldbeschaffer der Demokraten und Gründer des National Democratic Training Committee, das Kandidaten im ganzen Land schult. “Ich weiß, dass die Leute sich Sorgen machen, dass er zu alt ist, aber er macht diesen Job im Moment einfach perfekt.”
Und der strategische Berater der Demokraten Eddie Vale erkannte etwas in Bidens Auftritt, das vielleicht auch einige Skeptiker beruhigt hat: “Die Rede zeigte einen Präsidenten, der Spaß hatte und mit seinen Gegnern spielte”, sagte Vale. Der Präsident “sah aus, als wäre er bereit, sich 2024 in den Wahlkampf zu stürzen”.
Quellen: “Politico”, “The Hill”, NBC News, Associated Press,
Source: stern.de