Der Präsident hatte sich lange Zeit gelassen. Gewöhnlich reist Recep Tayyip Erdogan viel durchs Land, er sucht die Massen und spricht zu ihnen. Dieses Mal aber waren die führenden Oppositionspolitiker schneller als er. Zwar wurden sie nicht wie Erdogan von Fernsehteams begleitet, die live in der ganzen Republik verbreiteten, wie sie mit den Menschen sprachen und welche Hilfe sie brachten.
Aber über Twitter erreichen sie ebenfalls Millionen. Von den 15 Stunden zwischen Mittwoch und Donnerstag abgesehen, in denen die Regierung den Gebrauch des Kurznachrichtendienstes versuchsweise massiv eingeschränkt hat, funktioniert die wichtigste Nachrichtenquelle wieder, über die auch die Kritik am staatlichen Krisenmanagement geäußert werden kann.
Prokurdische Partei kritisiert Regierung
Bereits am Tag nach der Katastrophe trafen in der mutmaßlich am stärksten betroffenen Stadt Hatay der CHP-Vorsitzende Kemal Kilicdaroglu mit den Bürgermeistern von Ankara und Istanbul, Mansur Yavas und Ekrem Imamoglu, ein. Sie machten sich ein Bild von den Zerstörungen und berichteten etwa, dass ihre Stadtverwaltungen den von einem AKP-nahen Bauunternehmen gebauten Flughafen wieder instand setzten, was Erdogan zu einer wütenden Reaktion veranlasste.
Nach ihnen traf der Vorsitzende der prokurdischen HDP, Mithat Sancar, ein, der beklagte, dass es weder Wasser noch Zelte gebe, weder Brot noch sonstige Nahrungsmittel und dass die Menschen die Nächte schutzlos im Freien verbringen müssten. Die Stadt sei ihrem Schicksal überlasen. Er sehe nicht den Staat und nicht die Regierung.
Am Mittwoch und Donnerstag ließ sich dann auch Erdogan im Katastrophengebiet sehen. Zuvor hatte er die Entwicklungen aus seinem Amtssitz heraus verfolgt und in der Zentrale der Katastrophenschutzbehörde Afad, die einst sein Stellvertreter Fuat Oktay geleitet hatte, eine Erklärung abgegeben. Offenbar war er überzeugt, dass sie im Ernstfall effizient handeln würde. Nun war er am Mittwoch in Kahramanmaras und Hatay, am Donnerstag in Gaziantep, begleitet von seiner Frau Emine, die sich der Familien annahm und sich um Kinder in der Region kümmerte.
Erdogan wirkt angespannt
Erdogan wirkte angespannt, sprach von der Unmöglichkeit, sich auf eine solche Dimension vorbereiten zu können, nannte Zahl um Zahl, wo wie viele Gebäude eingestürzt seien, wo es wie viele Tote und Verletzte gebe. Hotels würden für die Überlebenden in den Touristenhochburgen würden eingerichtet, sagte er und versprach, dass nach einem Jahr die obdachlos Gewordenen in neugebauten Wohnungen eingezogen sein werden und, dass sich niemand Sorgen machen müssten. Ob er damit wie sonst bei seinen Auftritten, die Herzen der Menschen erwärmte, blieb fraglich.
Denn der Unmut über das Krisenmanagement seiner Regierung und seines Staats dürfte ihm nicht verborgen geblieben sein. In Gaziantep kündigte er zudem an, dass er in das Parlament einen Gesetzesentwurf für einen erdbebenbedingten Ausnahmezustand einbringen werde. Der solle in zehn der 81 Provinzen drei Monate gelten. Er würde am 9. Mai auslaufen. Am 14. Mai sollen die Parlaments- und Präsidentenwahlen stattfinden. Der Ausnahmezustand kann Maßnahmen beschleunigen, aber auch kurz vor den Wahlen die Grundfreiheiten einschränken.
Erdogan begründete die Notwendigkeit des Ausnahmezustands damit, Plünderungen und Unruhestiftung zu verhindern. Kurz zuvor hatte Innenminister Süleyman Soylu indes erklärt, Plünderungen gebe es nicht. Die Oppositionsparteien haben zu verstehen gegeben, lediglich einem einmonatigen Ausnahmezustand zuzustimmen. Als Erdogan in Gaziantep sprach, zogen im nahe gelegenen Adiyaman, wo erst spät Helfer eintrafen und dann zu wenige, Unzufriedene protestierend zum Sitz des Gouverneurs. Polizisten mussten die dort Beschäftigten aus dem Gebäude eskortieren.
Wahltermin darf nur im Kriegsfall verschoben werden
In der regierenden AKP regten erste Stimmen an, den Wahltermin angesichts der Erdbebenkatastrophe zu verlegen. Die Wahrscheinlichkeit dafür wird aber als gering eingeschätzt, denn die Verfassung sieht als einzigen Grund für die Verschiebung von Wahlen an, dass sich die Türkei im Kriegszustand befindet.
Afad teilte am Donnerstag mit, 70.000 Zelte für Familien seien aufgestellt. Die Hoffnung auf die Bergung weiterer Überlebender schwand bei den eisigen Temperaturen weiter. Die Toten werden rasch begraben. Die Opferzahlen werden unterdessen immer höher. Ihre Zahl ist allein in der Türkei nach Angaben von Afad auf über 17.100 gestiegen; zu ihnen kommen mehr als 3300 Tote in Syrien hinzu.
Viele können nicht identifiziert werden. Auch sie werden nach 24 Stunden bestattet. Zuvor werden sie fotografiert, ihre DNA und Fingerabdrücke werden sichergestellt.
Der türkische Geologe und Erdbebenforscher Övgün Ahmet Ercan schrieb am Donnerstag, es seien erst 9000 Menschen aus den Trümmern gerettet worden. Er rechne damit, dass sich unter den Trümmern der mehr als 7000 völlig zerstörten Häuser immer noch 215.000 Menschen befänden.
Nachdem die Regierung in der Nacht zum Donnerstag die Beschränkungen von Twitter aufgehoben hat, telefonierte der stellvertretende Direktor der türkischen Kommunikationsbehörde Iletisim mit den Verantwortlichen von Twitter. Was dabei besprochen wurde, wurde nicht bekannt. Namhafte Kritiker am Krisenmanagement der Regierung befürchten jedoch, dass ihre Accounts gesperrt werden könnten.
Source: faz.net