Am achten Tag nach dem verheerenden Erdbeben wurden in weiten Teilen des Katastrophengebiets in der Türkei die Rettungsarbeiten bereits eingestellt. An einigen Orten werden schon die Trümmer der eingestürzten Häuser beseitigt, selbst wenn darunter noch nicht geborgene Leichname vermutet werden. Dennoch konnten am Montagmorgen Rettungsteams noch sieben weitere Menschen lebend aus den Trümmern bergen, darunter ein dreijähriges Kind.
Fachleute der Baubehörden haben mit der Untersuchung begonnen, welche Gebäude in den zehn betroffenen Provinzen überhaupt noch bewohnbar sind. Die Inspektion soll in fünf Tagen abgeschlossen werden.
Dem türkischen Vizepräsidenten Fuat Oktay zufolge zerstörte oder beschädigte das Beben im türkischen Katastrophengebiet 108.000 Gebäude. Notunterkünfte wurden in dem Gebiet mit einst mehr als 13 Millionen Einwohnern, so das Präsidialamt, mittlerweile für 1,2 Millionen Menschen eingerichtet.
In Kahramanmaras nahe dem Epizentrum des Bebens wurden laut Regierung 30.000 Zelte aufgestellt, 48.000 Menschen übernachten in Schulen, weitere 11.500 in Turnhallen. Zwar hatte Präsident Recep Tayyip Erdogan zunächst angekündigt, dass viele, die obdachlos geworden sind, in den während den Wintermonaten leer stehenden Hotels untergebracht würden. Das ist jedoch offenbar nicht der Fall.
Was am Flughafen in Adana ankommt, wird mit AFAD-Aufklebern versehen
Auf heftige Kritik stößt daher, dass die Regierung mit dem Argument, die Wohnheime für Bedürftige aus der Erdbebenregion zu nutzen, die landesweite Schließung aller Universitäten bis zum Beginn der Sommerferien angeordnet hat. Statt Präsenzveranstaltungen solle es Fernunterricht geben. Ali Babacan, Gründungsmitglied der AKP und heute Vorsitzender der oppositionellen Deva-Partei, schrieb daher auf Twitter: „Die Auswirkungen der Pandemie sind noch nicht überwunden. Nehmen Sie nicht einer Generation das Recht auf Bildung!“ Auch die anderen Oppositionsparteien forderten, diese Anordnung zurückzunehmen.
Für Unmut sorgt auch, dass die Katastrophenschutzorganisation AFAD versucht, Hilfslieferungen anderer Organisationen als eigene Dienstleistungen auszugeben. Was beispielsweise auf dem Flughafen in Adana ankomme, werde mit den Aufklebern von AFAD versehen, heißt es.
Auf Unverständnis stößt die Kampagne, die gegen den populären Rockmusiker Haluk Levent und dessen Hilfsprogramm Ahbap läuft. Regierungsnahe Medien versuchen, ihn mit der Warnung zu diskreditieren, dass er Gelder veruntreuen könne. Spender sagten jedoch der F.A.Z., sie vertrauten Levent mehr als staatlichen Organisationen.
Gewaltsame Einsätze von Sicherheitskräften
Die Stadtverwaltungen von Istanbul und Ankara haben viele Angestellte in das Katastrophengebiet entsandt, um dort Dienstleistungen wie die Müllabfuhr bereitzustellen und so den Ausbruch von Krankheiten zu verhindern. Auch haben sie mobile Toiletten in das Gebiet gebracht. In den sozialen Medien kursieren jedoch zahlreiche Videos, auf denen zu sehen ist, dass private Hilfslieferungen oder aber solche von kleineren Städten, die von Oppositionsparteien regiert werden, mit dem Logo der Regierungspartei AKP überklebt werden oder gar von den lokalen Gouverneuren an der Weiterfahrt gehindert werden.
Für Schrecken sorgen Berichte und Videos, wie staatliche Sicherheitskräfte oder auch private Milizen mit angeblichen Plünderern umgehen. Teilweise handelt es sich um Plünderer, die Leichname berauben, teilweise aber auch um hungernde Personen. Der Sprecher der AKP, Ömer Celik, hatte angekündigt, gegen sie werde mit „äußerster Härte“ vorgegangen.
In Hatay starb nun ein Mann in Polizeigewahrsam. Einem gefesselten Mann wurde mit einem langen Messer beide Ohren abgeschnitten, und auch andere Videos demonstrierten einen unverhältnismäßig gewaltsamen Einsatz durch maskierte Sicherheitskräfte. Der oppositionelle Abgeordnete Mustafa Yeneroglu schrieb auf Twitter: „Wer diese Verbrechen begeht, sollte sofort vom Dienst suspendiert, verhaftet und auf das Schärfste bestraft werden. Die Politik der Straflosigkeit ermutigt und fördert Folter.“
Source: faz.net