Wie man im Dämonenreich glücklich sein soll: Mary Gaitskills erstmals übersetzter Roman „Veronica“

Ein kleines böses Mädchen, grausam und schön, ein Mädchen, das sich immer schon für etwas Besseres als die Familie hält und irgendwann, in einem tiefen Sumpf versinkend, ins Dämonenreich ge­langt, wo es verwandelt wird und fortan mit Schlamm und Schlangen um den Hals gefangen bleibt: eine wilde Kinder­geschichte mit weitreichender Wirkung. „Ich konnte das Mädchen spüren, das schön sein wollte. Eine Mutter, die es lieben, eine Dämonin, die es quälen wollte. Ich spürte, wie sich die Figuren in meiner Mutter so vermischten, dass ich sie nicht mehr auseinanderhalten konnte.“ So er­innert sich Alison, die Erzählerin, gleich zu Beginn dieses Romans daran, was ihr die Mutter ehedem vorgelesen hat. Und so legt der Roman gleich eine Spur, der auch wir als Leser folgen können, wenn wir uns seinen vielfachen Windungen und wilden Mischungen ohne Rückhalt überlassen wollen.

Die Geschichte, die er uns vermittelt, setzt sich allmählich erst zusammen, als ein Patchwork aus Reminiszenzen, Phantasien, Sehnsüchten und Ängsten. Alison ist Ende vierzig und hat ihr eigentliches Leben schon seit zwanzig Jahren hinter sich. Alternd, krank, verarmt und einsam fristet sie ihre Tage in einem kalifor­nischen Küstenkaff und lebt vor allem von Erinnerungen. Was sie sonst zum Leben braucht, muss sie durch einen Büroputzjob verdienen, den ihr ein abgelegter Lover überlassen hat. Die körperliche An­­strengung des Putzens aber kann sie nur mit Schmerztabletten mühsam durchstehen. Hepatitis C und ein schlecht verheilter Knochenbruch nach einem Unfall haben ihr den Körper ruiniert.

Schneller Absturz aus der Glamour-Welt

Dieses triste Dasein bietet dem Roman die Rahmung und Kontrastfolie, um Alisons bewegtes Leben in jungen Jahren zu erzählen. Aus vielerlei Versatzstücken und einzelnen Erinnerungsbrocken, die wie Magma hervorzubrechen scheinen und wild durcheinander wirbeln – „die gleißende, glühende Vergangenheit bricht wieder in die Gegenwart“, heißt es an einer Stelle –, setzt sich so ein Mosaik zusammen, das einiges mit der Geschichte von dem Mädchen, das im Sumpf versinkt, gemein hat. Doch der Roman setzt viel daran, dass wir uns dieses Kind auch im Dämonenreich als glücklichen Menschen vorstellen sollen.

Mary Gaitskill: „Veronica“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Daniel Schreiber. Blumenbar, Berlin 2022. 301 S., geb., 22,– €. : Bild: Blumenbar

Alison stammt aus New Jersey, flieht als Teenager aus der Familie nach San Francisco, um das freie Leben mit Sex und Drogen zu erproben und sich als Blumenverkäuferin vor Nachtclubs durchzuschlagen. Durch Kontakte eines schmierigen Agenten, der ihr zwischen die Beine fasst, wird sie zum fashion model, jettet nach Paris und steigt schnell in eine Glamour-Welt aus Stars und Modefotografen auf. Doch der tägliche Genuss von Champagner, Koks und Trüffelpastete weckt in ihr nur die Sehnsucht nach dem schlichten Chemiegeschmack amerikanischer Pies aus dem heimischen Supermarkt.

Ohnehin folgt schnell der Absturz. Der Boss der Model-Industrie, dem Alison als heimliche Geliebte diente, lässt sie fallen, betrügt sie um ihr Geld und verhindert ihre weitere Karriere. So versucht sie in New York den Neu­anfang mit College-Besuch und Büro-Job. Hier lernt sie auch Veronica kennen, eine deutlich ältere Kollegin, die Strickpullis mit Zopfmuster und bunten Tieren trägt, Opern liebt und in vielerlei Hinsicht einen gänzlich anderen Le­bensentwurf hat. Zunächst kann Alison ihre Verachtung kaum verhehlen. Doch der Gegensatz zieht sie zunehmend an, eine echte Freundschaft entwickelt sich. Veronica erkrankt an Aids, in den Achtzigern die neue Seuche, und Alison begleitet ihre Freundin auf dem Weg zum Tod. Noch Jahrzehnte später, als Alison längst selbst erkrankt ist, um­kreisen ihre fiebernden Gedanken diesen Abschied.

Unerbittliche Chronistin unserer Triebwelt

Damit findet der Roman spät sein ei­gentliches Thema. Lange wirbelt er bis dahin seine unterschiedlichen Erzählfetzen umeinander, verbindet Anrührendes (wie die Erinnerungen an die Schwestern) mit Abstoßendem (Einblicke ins Pariser Sadomaso-Milieu) und Zeittypischem (New Yorker Boheme der Acht­ziger) und sorgt insgesamt dafür, dass wir uns selbst wie jenes Mädchen aus der Kindergeschichte fühlen und die Dinge kaum mehr auseinanderhalten können.

Erzählt wird alles in einer metaphernreichen, oft üppig wuchernden Sprache, die Daniel Schreiber, der sich lange schon für die Autorin Mary Gait­skill einsetzt, schonungslos ins Deutsche gebracht hat. Manchmal kommt es so zu eindring­lichen Bildern: „Achtlos weg­geworfene Hosen versuchten, von der Couch zu fliehen; verwelkte Kleider schnarchten auf Küchenstühlen“, manchmal zu hitziger Großstadtprosa: „Der Sommer war feucht und heiß. Die Stadt atmete aus, furzte und schwitzte durch die Gitterstäbe ihres Betonkäfigs wie ein riesiges Tier aus Fleisch und Stahl, Glas und strähnigem Haar. Sie verbreitete einen gewaltigen Gestank, ein Wirrwarr vieler kleiner Gerüche – Blumen, Schmutz, Autos, Müll, Pisse und Essen.“ Und manchmal bloß zu Stilblüten: „Unsere Unterhaltungen glichen zerrissenem Papier, das im reißenden Strom unserer nach vorn gerichteten vereinten Absichten taumelte.“

Harter Sex, Geschlechterkampf und Drogen: Das sind seit dem Debütband „Bad Behavior“ von 1988 die Markenzeichen von Mary Gaitskill (Jahrgang 1954) als unerbittlicher Chronistin unserer Triebwelt. Mit der deutschen Neuausgabe dieser Story-Sammlung vor drei Jahren und mit „Das ist Lust“, einem erzählerischen Beitrag zur Me­Too-Debatte, hat der Blumenbar-Verlag begonnen, zur Ent­deckung ihrer Texte einzuladen. Doch gerade vor dem Eindruck dieser starken und zutiefst ver­störenden Erzählungen wirkt der Ro­man „Veronica“, im Original 2005 erschienen, deutlich schwächer. Vielleicht liegen knappe Formen der Autorin mehr. Was sich einprägt, sind ver­einzelte Passagen. Als Ganzes wirkt ihr Roman un­entschieden taumelnd und zu fahrig, um in seinem Strom je mitzureißen.

Mary Gaitskill: „Veronica“. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Daniel Schreiber. Blumenbar, Berlin 2022. 301 S., geb., 22,– €.

Source: faz.net

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