Deutschlands Rolle in der Welt: Zwischen Führungsrolle und Abwägen

Analyse

Stand: 17.02.2023 08:35 Uhr

Die Bundesregierung will eine Führungsrolle in Europa einnehmen. Das Taktieren bei Waffenlieferungen an die Ukraine irritiert aber immer wieder Partner in NATO und EU. Was bedeutet das für die Zukunft?

Von Kai Küstner, ARD-Hauptstadtstudio

Die jahrzehntelange deutsche Zurückhaltung in Sicherheitsfragen muss nun ein Ende finden – daran gibt es in der Ampel-Koalition kaum Zweifel. “Deutschland muss eine starke Führungsrolle einnehmen”, so formuliert es SPD-Chef Lars Klingbeil. Er selbst und auch andere in seiner Partei bemühen gar den Begriff “Führungsmacht”. Doch die Frage ist: Folgen diesen so selbstbewusst vorgetragenen Worten auch Taten – genügt Deutschland seinem selbst auferlegten Anspruch?

Kai Küstner ARD-Hauptstadtstudio

Nicht nur der neue Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, zweifelt daran. Zwar werde die deutsche Hilfsbereitschaft bei der Unterstützung der Ukraine durchaus wahrgenommen – finanziell, in Sachen Rüstung und auch bei der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen – aber: “Überall hat man das Gefühl, dass Deutschland da nicht in Führung ist, sondern zögerlich hinterherhinkt. Da würde man sich – das hört man von allen Partnern – eine stärkere Rolle Deutschlands wünschen.”

Deutschland – die schüchterne Führungsmacht?

Tatkraft versucht die Bundesregierung durchaus hier und da zu demonstrieren: Etwa bei dem Vorstoß, im Verbund mit Partnerländern in Europa einen Raketenschutzschirm aufzuspannen – wenn auch ohne Frankreich. Oder zuletzt beim Versuch, eine Leopard-Koalition zu schmieden, um Kampfpanzer koordiniert in die Ukraine zu schicken.

Wie schwierig sich das gestaltete, stellte die Bundesregierung zuletzt nicht ohne Verblüffung fest – weil nun auf einmal die Partner nur zögerlich Zusagen machten. Ob das daran lag, dass Berlin erst so spät mit dem Schmiedeversuch startete, ist eine offene Frage. Jedenfalls verstand man in der Ukraine nicht, warum der Kanzler sich nicht bereits im Sommer oder Herbst an die Spitze einer möglichen europäischen Initiative hatte setzen wollen – und Ex-Diplomat Heusgen geht es genauso: “Wenn man das damals gemacht hätte, wären wir heute weiter.”

Kanzler Olaf Scholz, der einst den Satz prägte: “Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie”, will Führung in puncto Waffenlieferungen genau so verstanden wissen: als behutsames Vortasten, als stetiges Abwägen, welcher Schritt gerade sinnvoll ist. Und als der Verzicht auf das Ausbuchstabieren einer Strategie.

“Können wir den Deutschen wirklich vertrauen?

Doch wer bei ab- oder auch angeschaltetem Mikrofon mit Offiziellen der NATO-Partner redet, erfährt, wie sehr Deutschland mit seinem als zu zaghaft und zögerlich wahrgenommenen Verhalten seine Verlässlichkeit erschüttert hat.

“Können wir den Deutschen wirklich vertrauen? Und würden wir Hilfe wirklich sofort bekommen, wenn wir sie brauchen?” Mit diesen Worten stellte der lettische Vize-Regierungschef Artis Pabriks im Herbst gar eine Art Vertrauensfrage an die Adresse der Bundesregierung. Und zuletzt sorgte auch in den USA für Irritationen, wie Beobachter in Washington bestätigen, dass sich Deutschland in der Kampfpanzerfrage an eine Zusage der USA kettete und nicht selber in Vorleistung ging.

Die Zeitenwende in den Köpfen

Klar aber ist: Wenn es die Bundesregierung es ernst meint mit ihrem Führungsanspruch, wird sie die Menschen in Deutschland dabei mitnehmen müssen, sprich: Sie muss die Zeitenwende in den Köpfen verankern.

Da habe sich bereits etwas getan: Für die Deutschen sei Russland derzeit das größte Sicherheitsrisiko, das gehe aus einer Befragung für die “Münchner Sicherheitskonferenz” hervor, erläutert Forschungsleiterin Sophie Eisentraut: “Auch die Bereitschaft, Russland wirtschaftlich und militärisch entgegenzutreten, hat sich massiv verändert.” Gleichzeitig jedoch hatte in einer Umfrage der Körber-Stiftung im Herbst eine Mehrheit der Deutschen sich außenpolitische Zurückhaltung gewünscht.

Jedenfalls lässt sich der Eindruck schwer bestreiten, dass sich die Partner dies- und jenseits des Atlantiks eine Führungsrolle Deutschlands etwas mehr wünschen, als es das selbst tut. Außer Zweifel steht, dass die Bundesrepublik stets nur eingebettet in EU und NATO aktiv werden will und wird.

Dem eigenen Anspruch gerecht werden

Und dies birgt durchaus eine große Chance: Spätestens nach der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten 2016 und einer Bierzeltrede der damaligen Kanzlerin Angela Merkel war der Anspruch formuliert, Europa unabhängiger von den USA zu machen und strategisch auf eigene Beine zu stellen. Wie sich in Afghanistan und bei der Unterstützung der Ukraine zeigte, ist man diesem Anspruch in den letzten sechs Jahren kaum nähergekommen.

Dafür unbedingt nötig wäre: den deutsch-französischen Motor wieder in Gang zu bringen und den Osteuropäern zu vermitteln, dass man sie – endlich – als Partner auf Augenhöhe betrachtet. Europa auf dem Feld der Sicherheit entscheidend voranzubringen, wäre also eine Chance für Deutschland, seinem selbstformulierten Führungsanspruch gerecht zu werden.

Source: tagesschau.de

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