Ukraine-Krieg: Der falsche Gegensatz

Wer Verhandlungen statt Waffenlieferungen fordert, sitzt einem strategischen Irrtum auf. Solch eine Entweder-oder-Haltung schafft keine Optionen, sondern verschließt sie.

Gut integrierte Konflikte zeichnen sich dadurch aus, dass sie in der Lage sind, alles dem eigenen Gegensatz unterzuordnen. Die öffentliche Diskussion um die angemessene Reaktion auf die russische Invasion der Ukraine scheint ein solcher gut integrierter Konflikt zu sein: Wer nicht für Verhandlungen, also Frieden, plädiert, ist für den Krieg. Der Begriff des Bellizismus ist dafür ein Indikator: Bellizist ist demnach derjenige, der für eine militärische Unterstützung der Ukraine eintritt. Gut integrierte Konflikte lassen keinen Raum für Graustufen. Sie sind Allesfresser, die Positionen der einen oder der anderen Seite zurechnen. Ein Konfliktsystem reproduziert sich von selbst und schafft Ordnung.

Das bildet die öffentliche Debatte um die angemessene Haltung zum Ukraine-Krieg eindrücklich ab. Was den Autorinnen und Autoren der verschiedenen Offenen Briefe wirklich gut gelungen ist, ist die Simplifizierung des Problems – was übrigens auch den nicht unerheblichen Zuspruch erklären mag. Wer Verhandlungen fordert, tut zunächst so, als seien andere gegen Verhandlungen und als werde nicht ohnehin permanent auf unterschiedlichen Ebenen verhandelt und sondiert, etwa im Rahmen von Gefangenenaustauschen oder Getreideabkommen, aber auch Kommunikation auf der Ebene der Staatschefs. Übrigens mit dem Ergebnis, dass es vor allem die russische Seite war, die kein Interesse an grundlegenden Verhandlungen zu haben scheint, was derzeit auch von der ukrainischen Administration für unmöglich gehalten wird.

Trotz all dem hält sich die geradezu fantasmatische Unterscheidung Verhandlungen statt Waffenlieferungen – das ist das Zentrum dieser Debatte, die aber mit der Sache selbst nur wenig zu tun hat. Denn zu gut integrierten Konflikten gehört es auch, dass sie sich von sachlichen Fragen abkoppeln können. Es reicht ja schon, sich der einen oder anderen Seite zuzuordnen oder zugeordnet zu werden.

Diejenigen, die Verhandlungen für eine echte Alternative zur vermeintlich bellizistischen Perspektive halten, nutzen die Stabilität des öffentlichen Konflikts, scheitern aber an der Sache. Von den ideologisch Verbohrten sowie den üblichen Erwartbaren auf der Liste der Manifest-für-den-Frieden-Unterzeichner abgesehen, ist es vor allem dieses Versagen in der Sache, das so schwer wiegt. Tritt man einen Schritt zurück, werden die logischen Fehler sichtbar, die die Seite der Verhandlungen vor sich hertragen.

Generäle vorm Sandkasten

Ich bin kein Militärexperte und auch kein Kenner Osteuropas – aber über die Dynamik von Situationen lässt sich doch einiges sagen: Den Briefeschreibern fällt nicht auf, dass viele von ihnen wie auktoriale Erzähler, also wie Romanautoren, glauben, sich die Welt wie auf einem weißen Blatt Papier hübsch einrichten zu können – vielleicht sind deswegen Schriftstellerinnen und Schauspieler so überproportional vertreten, wenn es um einfache Lösungen geht, in der Pandemie war das auch schon so. Von ihnen wird eine Wirklichkeit imaginiert, die die Autorinnen und Autoren zu auktorialen Erzählern eines Geschehens macht: Sie gehen schlicht davon aus, dass man eine Gemengelage herstellen kann, in der sich unterschiedliche Partner mit offenkundig unterschiedlichen Perspektiven und Interessen, unterschiedlichen Ressourcen und unterschiedlichen Machtpotentialen so arrangieren ließen, dass es für alle passt. Der Aggressor soll nicht mehr so aggressiv sein, dann kann auch der Angegriffene mit der Verteidigung aufhören; der alarmierte westliche Nachbar soll sich zurücknehmen, damit die beiden einen Ausgleich hinkriegen, und dann stellt sich Frieden ein.

Das hört sich wie eine Polemik an – bildet das Verhältnis zur Wirklichkeit aber gut ab. Es ist die Attitüde des Feldherrn, der nach freiem Gusto Truppenteile verschieben kann, um sich entsprechende Konstellationen zu verschaffen. Doch kann der Feldherr tatsächlich eben nur seine eigenen Truppen befehligen und den Gegner gerade nicht kontrollieren. Die Simplizisten des Manifests für den Frieden wirken deshalb eher wie Generäle, die vor einem Sandkasten spielen, wie ein Krieg vonstattengehen könnte.

Unstrategischer kann man kaum denken. Denn Strategien zeichnen sich dadurch aus, dass Akteure mit unterschiedlichen Interessen in Echtzeit aufeinander reagieren, gerade weil sie sich gegenseitig nicht kontrollieren können. In der Literatur ist es seit Clausewitz bis zu spieltheoretischen Modellen geradezu die Voraussetzung, dass sich Konstellationen eben nicht aus der Perspektive eines Dritten herstellen lassen – so wie man ein weißes Blatt Papier vollschreibt und dabei Kausalitäten konstruiert, die in der Fantasie zwar funktionieren, aber nicht in der Wirklichkeit.

Eine Gesichtswahrung Russlands ist kann kein anzustrebendes Ziel

Um komplexe Situationen angemessen verstehen zu können, bedürfte es lediglich einer kleinen Vorannahme: Jeder Akteur kann nur in einer konkreten Gegenwart handeln, er bekommt nur das in den Blick, was er in den Blick bekommt, hat nur die Ressourcen, die ihm gerade zur Verfügung stehen, und muss permanent auf die Züge des Gegners reagieren. Es hängt dann davon ab, wie sich wechselseitige Handlungen so aufeinander beziehen, dass die Situation entweder eskaliert oder dass eine gegenteilige Dynamik stattfindet – doch auch das hängt stets davon ab, ob sich der jeweilige Gegner damit in einen Vorteil bringt oder nicht. Auch all das, vor allem das Problem der Asymmetrie am Ende eines Krieges, kann man schon bei Clausewitz nachlesen. Dessen Formulierungen aus dem 19. Jahrhundert wirken ungemein modern.

Dies gilt nicht nur für das Kriegsgeschehen selbst, sondern auch für das, was als Verhandlung, als Kommunikation, als Sondierung drumherum geschieht. Stellt man sich Verhandlungen naiv als ein Geschehen vor, in dem die Beteiligten mit Verständigungsabsicht und einem gemeinsamen Ziel zusammenkommen, um die beste Lösung für alle zu erreichen, unterschätzt man die Komplexität der Situation. So ähnlich simplifizieren die Briefeschreiber das Problem – aber es fällt nicht weiter auf, weil es der Kampagne gelingt, die Unterscheidung von Krieg und Frieden so deutlich zuzurechnen, dass alle, die nicht “Verhandlungen, und zwar sofort” fordern, zu Bellizisten werden. Ich selbst musste mich schon von einem derlei gestimmten Fachkollegen als “Regierungsbellizist” beschimpfen lassen.

Eine besondere Rolle spielt der Diskussionsbeitrag von Jürgen Habermas, der letzte Woche in der Süddeutschen Zeitung erschien. Man muss Habermas dankbar sein, dass er sich wenigstens partiell der stabilen Konfliktdynamik entzieht. Wie verstörend seine Perspektive auf Viele wirkte, lässt sich in den zum Teil unfassbaren Beleidigungen beobachten, wie sie in den sozialen Netzwerken zu beobachten sind – was wiederum Ausdruck des stabilen Konfliktsystems und seiner gefräßigen Struktur ist, die nichts im Graubereich belassen darf.

Habermas’ Beitrag enthält einige Untiefen, wenn er etwa einen “bellizistischen Tenor einer geballten öffentlichen Meinung” diagnostiziert, und auch die semantische Unterscheidung von “Siegen” und “Nicht-Verlieren” als Optionen für die Ukraine sind weniger trennscharf, als es der Philosoph hier behauptet. Auch ein gewisses generationstypisches Misstrauen osteuropäischen Befreiungsbewegungen gegenüber ist zu beobachten, was das merkwürdige Desinteresse an der Ukraine erklärt. Und nicht zuletzt ist ihm Putins historisch imprägnierter Imperialismus gegen alles, was rechtsstaatliche, pluralistische, demokratische und offene Lebensformen ausmacht, keine Bemerkung wert – erstaunlich für einen Philosophen, der all das in den letzten Jahrzehnten zum Zentrum seines eigenen Werks gemacht hat. Dies mag als Andeutung genügen. Aber ein entscheidender Punkt muss genannt werden: Habermas fragt, unter welchen Bedingungen “die Suche nach erträglichen Kompromissen” erfolgreich sein könnte. Kompromissmöglichkeiten freilich setzen bereits Strukturen voraus, in denen die Partner gemeinsam auf etwas zu verpflichten sind und sich dann auch verpflichtet sehen. Er sagt selbst, dass das für Russland derzeit nicht gilt. Daraus kann man doch nur die Konsequenz ziehen, dass diese Bedingungen militärisch hergestellt werden müssen.

Waffenlieferungen dürfen kein Selbstzweck sein

Habermas’ gesamte Theorie lebt davon, Bedingungen für Aushandlungen, für Kompromisse, für Verständigungsprozesse benennen zu können. Seit den Siebzigerjahren hat er daran gearbeitet, solche Bedingungen zu beschreiben, die zumeist in vorkonsentierten Verhältnissen liegen. Damit ist gemeint, dass Konsense oder wenigstens bindende Vereinbarungen einen Boden brauchen, über den unter den Verhandlungs- und Kommunikationspartnern bereits ein gesellschaftlicher, er sagt: lebensweltlicher Basiskonsens besteht. 

Habermas sieht schon in der Sprache selbst Voraussetzungen angelegt, die das ermöglichen können – die aber auch verfehlt werden können. Fallen diese nämlich weg, sind Kompromisse fast unmöglich. Und selbst die Sentenz von der für Russland “gesichtswahrenden” Lösung ist noch imprägniert von dieser unrealistischen Idee – zumindest auf dem Feld des Krieges und der internationalen Beziehungen. Eine Gesichtswahrung Russlands kann kein anzustrebendes Ziel sein, weil es eine Symmetrie suggeriert, die durch den einseitigen Angriff Russlands und durch die brutale Kriegsführung unheilbar verloren scheint. Eine Kriegsführung, von der Putin in seiner heutigen Rede zur Nation versprach, sie “systematisch” fortzusetzen.  

Die strategische Situation ist eine andere: Wer Verhandlungen und Diplomatie stark machen will, muss die Voraussetzungen dafür schaffen. Friedensverhandlungen sind nicht die Voraussetzungen für die Lösung des Konflikts, sondern ihr Endpunkt. Solange Russland, wie Verhandlungsangebote und Kontaktaufnahmen durchaus vermitteln, die Spielräume einengt und offensichtlich kompromisslos kämpft, auch mit einem zivilisatorisch befremdlichen interesselosen Umgang mit eigenen Verlusten, müssen die Ukraine und der Westen die Optionen erhöhen – dazu gehören nicht nur, aber derzeit in erster Linie militärische. Welche das sind, kann ich nicht beurteilen, aber dass sie gebraucht werden, ist nicht schwer einzusehen. Sehr hilfreich an Habermas’ Einlassungen jedenfalls ist, dass er deutlich darauf hinweist, dass Waffenlieferungen niemals ein Selbstzweck sein dürfen, sondern nur ein Mittel zum Zweck der Ermöglichung von Kompromissbereitschaft – wie auch Verhandlungen kein Selbstzweck sein können.

Wer sich dem Diktum Verhandlungen versus Krieg unterwirft, kann nichts weiter sehen. Wer solche Manifeste unterschreibt, ist im besseren Falle denkschwach, im schlechteren von anderen Motiven getrieben. Es scheint jedenfalls ein Konfliktmuster zu sein, das sich bereits in der Pandemie gezeigt hat: Die Entweder-oder-Haltung begrenzt Optionen, sie eröffnet keine.

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