Beten ist kirchliches Kerngeschäft. Auf der sicheren Seite stehen somit die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die katholische Deutsche Bischofskonferenz (DBK), wenn sie zu Gebeten an diesem Wochenende aufrufen, an dem sich der Beginn des russischen Angriffs gegen die ganze Ukraine jährt. Doch innerkirchlich lässt sich die Aktion #pray4ukraine auch als Minimalkompromiss verstehen: Das Gebet in Solidarität mit der Ukraine ist das, worauf sich alle einigen können.
Ansonsten gehen die Meinungen, wie auf den Krieg zu reagieren ist, innerkirchlich weit auseinander. Und bisher sahen die Kontroversen meist so aus, dass die Spitzen der Kirchen in Deutschland versuchten, den pazifistischen Strömungen eine Hinnahme von Waffenlieferungen abzutrotzen. Bei den Katholiken erkennt man diese Spannung dort, wo sich Papst Franziskus auch wegen antiwestlicher Katholiken in Afrika und Südamerika auf Forderungen nach raschen Friedensverhandlungen konzentriert, wohingegen der DBK-Vorsitzende Georg Bätzing eine militärische Unterstützung der Ukraine für gerechtfertigt hält.
Bei den Protestanten äußert sich der EKD-Friedensbeauftragte Friedrich Kramer, Bischof der Mitteldeutschen Landeskirche, sehr kritisch über Waffenlieferungen, die die Ratsvorsitzende Annette Kurschus zu verteidigen versucht. Unter zusätzlichen Druck gesetzt wird Kurschus dabei in der Öffentlichkeit durch Ex-Ratschefin Margot Käßmann, die zu den Erstunterzeichnern des „Manifests für Frieden“ von Sahra Wagenknecht (Linke) und „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer gehört.
Doch nun regt sich gegen den von Käßmann verfochtenen Pazifismus entschiedene Kritik unter Protestanten. So attackierte Petra Bahr, evangelische Regionalbischöfin in Hannover, in einem „Zeit“-Streitgespräch mit Käßmann den Text von Schwarzer und Wagenknecht als „Manifest der Unterwerfung“ und bezeichnete Militärhilfe als tatsächlich geboten.
Gegenpol zu kirchlichen Pazifisten
Begrifflich noch weiter gingen Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (Grüne) und die frühere FDP-Politikerin Irmgard Schwaetzer, die beide schon Vorsitzende (Präses) der EKD-Synode waren. In einem WELT-Gastbeitrag arbeiteten sie beim Thema Waffenlieferungen mit dem Begriff der Verpflichtung. „Das christliche Gebot der Sorge und Mitverantwortung für die Nächsten“, so Göring-Eckardt und Schwaetzer, „erlaubt, ja, verpflichtet uns, der Ukraine zu helfen, wenn Menschen von Russland ermordet, gefoltert, erniedrigt, vertrieben werden.“
Ausgeführt wird das Konzept der christlichen Verpflichtung zu einer auch militärischen Unterstützung unter bestimmten Umständen in einem Debattenbeitrag, den sieben Theologen auf der Internet-Seite einer Institution veröffentlichten, die einen Gegenpol zu kirchlichen Pazifisten bildet. Es ist die Seite des evangelischen Militärbischofs Bernhard Felmberg, der für die Seelsorge in der Bundeswehr zuständig ist.
Dort schreiben die Autoren, unter denen sich mit Reiner Anselm und Bernd Oberdorfer (beide München) Theologieprofessoren mit großem Einfluss in der EKD finden, es gelte „gegenwärtig, energisch für das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und die Anerkennung der Pflicht zu Nothilfe einzutreten“. Angesichts des Überfalls durch Russland kehre sich die Begründungspflicht bei der Frage nach Beistand für die Ukraine um: „Ethisch betrachtet, ist es nicht begründungspflichtig, Nothilfe zu leisten, sondern umgekehrt: Es müsste begründet werden, wenn keine Unterstützung eines rechtswidrig angegriffenen Staats erfolgte.“
Das bedeutet: Rechtfertigen müssen sich nach Ansicht der Autoren nicht diejenigen Kirchenvertreter, die Waffenlieferungen an die Ukraine hinnehmen, sondern diejenigen, die sie ablehnen.
Das wiederum hat Konsequenzen für die zentrale christliche Frage nach dem Schuldigwerden. Diese Frage führt in innerkirchlichen Krieg-und-Frieden-Debatten bisher meist dazu, dass die Unterstützer von Waffenlieferungen signalisieren, dass man in einem Krieg halt damit leben müsse, Schuld auf sich zu laden.
„Einseite Berufung auf die Bergpredigt führt in die Irre“
Dem widersprechen die Autoren auf bemerkenswerte Weise: „Wenn die Anwendung militärischer Gewalt und die Unterstützung etwa durch Waffenlieferungen ethisch und rechtlich gerechtfertigt sind, entsteht durch die gerechtfertigte Gewaltanwendung und ihre Unterstützung keine Schuld.“ Zwar entstehe Schuld, wenn die Gewaltmittel unverhältnismäßig und ohne zwingenden Grund eingesetzt würden. Aber: „Wenn die Maßnahmen gerechtfertigt sind und keine anderen Mittel zur Verfügung stehen, ist dies als Übel anzusehen, das aber nicht als solches bereits eine Schuld darstellt.“
Solche Argumente können dazu angetan sein, die kirchlichen Friedensdebatten ganz neu und mit völlig veränderten Ansprüchen der verschiedenen Seiten zu führen. Dass dies nötig sei, deuten die Autoren an. „Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich die friedensethischen Stellungnahmen der EKD in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker dahin entwickelt haben, ein in der Praxis Jesu fundiertes Ethos ins Zentrum zu stellen und daran auch die politischen Optionen auszurichten.“ Aber: „Eine einseitige Berufung auf die Bergpredigt führt in die Irre.“
Stattdessen sei „das Ethos der Gewaltlosigkeit, das sich auf Jesus beruft“, aufzufassen „als eine unter mehreren normativen Ressourcen für evangelische Friedensethik“. Heranzuziehen seien unter anderem auch Thesen des Apostels Paulus zur „Bedeutung rechtlich geordneter politischer Vollmacht für die Eindämmung von Gewalt“.
Ob solche Überlegungen für die Kirche prägend werden, bleibt zwar abzuwarten. Aber sie können bewirken, dass die von der EKD-Synode im November 2022 beschlossene Überarbeitung der bisherigen kirchlichen Friedensdenkschriften mit lebhaften Diskussionen einhergeht.
„Kick-off Politik“ ist der tägliche Nachrichtenpodcast von WELT. Das wichtigste Thema, analysiert von WELT-Redakteuren, und die Termine des Tages. Abonnieren Sie den Podcast unter anderem bei Spotify, Apple Podcasts, Amazon Music oder direkt per RSS-Feed.
Source: welt.de