„Sola scriptura“, es gilt allein das Wort der Schrift – diese lutherische Maxime mag die Wiegengabe der Fee für Karl Dietrich Wolff (genannt KD) gewesen sein. Über die Großeltern auf beiden Seiten kommt er vom Pfarrhaus her. Sein Vater war Richter. Zwei Verlage hat Wolff geführt und dabei mindestens zwei Leben gelebt. 1970 gründete er das Frankfurter Unternehmen Roter Stern, 1979 den Frankfurt-Baseler Nachfolger Stroemfeld. Die Schätze seines Hauses sind kaum auszumessen. Mit der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe, herausgegeben von D.E. Sattler, begann eine neue Zeit der Editionen überhaupt. Vorbereitend gewirkt hatte 1971 das Stück „Hölderlin“ von Peter Weiss: In den Turm des alten Hölderlin tritt der junge Karl Marx. Pierre Bertaux hatte 1969 in seinem Buch „Hölderlin und die Französische Revolution“ gleichfalls kräftig in den roten Farbtopf gegriffen. Aber es war doch mehr daran.
Der erste Band der „Großen Stuttgarter Ausgabe“ Hölderlins, herausgegeben von Friedrich Beißner, erschien in Wolffs Geburtsjahr 1943. Sie war normativ am Werk orientiert. Da waren die Dichtungen (vorne) getrennt von den „Lesarten und Erläuterungen“ (hinten), der gültige Text von seinen Vorstufen. D.E. Sattler ging dagegen auf die Handschriften zurück und bemerkte, wie viel bei Beißner fehlte: „Da sah ich einen Satz am linken Rand, der sehr schwer zu lesen war, den ich damals entzifferte ‚Der Rosse Leib war der Geist’, das war falsch, gut, aber dieser Satz fehlte ganz in der Stuttgarter Ausgabe.“ Nun wurde aus einem rekonstruierten vollendeten Werk ein wilder Text-Tumult, der Leser der Frankfurter Ausgabe wurde zum Zeugen von Bewegung.
Manchmal kann dem Beobachter schwindlig werden
Wer zählt die inzwischen legendären Ausgaben, die danach kamen? Kleist und Kafka, dann Gottfried Keller und Robert Walser, Trakl, Johann Peter Hebel, Tagebücher von Clara Schumann, E. T. A. Hoffmann. Den großen Erzähler Peter Kurzeck hat Wolff überhaupt erst entdeckt. Die Werke des Berliner Religionswissenschaftlers Klaus Heinrich hat er in ihrer ganzen Breite verlegt, auch das Erfolgsbuch „Männerphantasien“ von Klaus Theweleit. Manchmal konnte es dem Beobachter schwindlig werden. Im Herbst 2018 musste Stroemfeld Insolvenz anmelden. Wer Wolff danach sah, gewann den Eindruck, eine Last sei von seinen Schultern genommen worden.
Aber was war eigentlich vorher? Zu den vier Gründern des Verlags Roter Stern gehörten 1970 neben Wolff: Michael Schwarz, Johannes Weinrich und Wilfried Böse. Hier erschien die Schriftenreihe „Antiimperialistischer Kampf“, eine höfliche Umschreibung für Terrorismus. Band 6 widmete sich 1973 der Palästinensergruppe „Schwarzer September“, die im Jahr zuvor das Olympia-Attentat verübt hatte; Band 7 einer Guerillaorganisation in Chile und der japanischen Terrorgruppe „Rote Armee“, Band 8 der uruguayischen Stadtguerilla „Tupamaros“. 1972 wurden Böse und Weinrich praktisch und gründeten die „Revolutionären Zellen“: Die Haupttäter der RAF waren in Haft, daraus zogen die beiden Verlagsleute den Schluss, dass es nur „dezentral“ klappen könnte. 1975 gingen sie in den Untergrund. Böse wurde in Entebbe bei einer Flugzeugentführung erschossen, Weinrich wurde der zweite Mann des Terroristen Carlos.
Seit Langem kündigt Wolff seine Autobiographie an. Man wünscht sie sich nach dem Muster nicht der großen Stuttgarter Ausgabe (der polierte Text vorn, die Lesarten im Anhang), sondern nach dem der Frankfurter; mit sämtlichen inzwischen unverständlichen Details, mit allen nachträglichen Streichungen, Übermalungen, Überschreibungen, Umdeutungen: Es wäre eine der spannungsreichsten Geschichten, die sich denken lässt. Dieser große Verleger hat es nicht verdient, seine Lebensgeschichte im lauen Bad des Narrativs von der Bundesrepublik und „ihren“ Achtundsechzigern weichgespült zu sehen. Unebenheiten sind nun einmal das Kennzeichen der Wirklichkeit. Am heutigen Montag wird KD Wolff achtzig.
Source: faz.net