Die schrumpfende Bundeswehr wartet auf die Zeitenwende

Als Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wenige Tage nach Be­ginn des zweiten russischen Überfalls auf die Ukraine eine „Zeitenwende“ für die Bundeswehr ausrief, ging ein Ruck durch die Streitkräfte. Der Kanzler stellte eine rasche Wieder­ertüchtigung der Streitkräfte in Aussicht. Scholz versprach keine Kleinigkeiten, sondern ein Sonderprogramm von 100 Milliarden Euro und eine starke Erhöhung des Verteidigungsetats von damals knapp 50 Milliarden Euro. Deutschland werde „von nun an Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung in­vestieren“, sagte der Kanzler vor dem Bundestag. Das gab Beifall im eigenen Land und bei den Alliierten. Britische Zeitungen schrieben, in der Mitte Europas erwache endlich der „schlafende Riese“.

Ein Jahr später fällt die Bilanz ernüchternd aus. Der Anteil der Verteidigungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt lag 2021 bei 1,35 Prozent und stieg weder im vorigen noch in diesem Jahr spürbar an. Im vorigen Jahr betrug die Deckungslücke mehr als 25 Milliarden Euro, in diesem Jahr werden es noch mehr. Das bedeutet, der Etat müsste im ersten Kriegsjahr bei mindestens 76 Milliarden Euro gelegen haben, um das NATO-Versprechen einzuhalten. Das unterblieb. Angesichts dessen relativierte die Bundesregierung ihr Versprechen bald und gab an, Ausgaben aus dem 100-Milliarden-Paket sollen hinzugerechnet werden.

Die Bilanz sollte verschönert werden, in­dem Teilausgaben aus dem Sondervermögen den Zahlen zum Verteidigungsetat zugerechnet werden. Jedoch: Es wurde bislang fast nichts ausgegeben. Ende Fe­bruar 2023 teilte die Bundesregierung mit, dass von den 100 Milliarden Euro bislang 600 Millionen Euro tatsächlich abgeflossen sind. Also 0,6 Prozent. Es ist weder ge­glückt, die wehrtechnische Industrie noch die Beschaffungsbürokratie in Koblenz zu den notwendigen Kraftanstrengungen zu bewegen. Dabei hatte Finanzminister Christian Lindner (FDP) mit Blick auf die soeben beschlossenen 100-Milliarden-Sonderschulden bereits Mitte vorigen Jahres verlangt, „kraftvolle und mutige Reformen“ im Rüstungswesen einzuleiten. Das „unzureichende zivile und militärische Ma­nagement“ müsse beendet werden. Lindner bot an, dem Verteidigungsministerium gern dabei zu helfen.

Erst im Juni vom Bundestag beschlossen

Die damalige Ministerin Christine Lambrecht (SPD) wies das zurück, man ha­­be bereits genug beschleunigt. Wenige Wochen später musste die SPD-Politikerin eine schwere Fehlplanung eingestehen: Niemand hatte Munition bestellt. Statt, wie von CDU und CSU gefordert, einen beträchtlichen Anteil des Ertüchtigungsgeldes für Munition einzuplanen, tauchte der Posten dort gar nicht auf. Auch im Verteidigungshaushalt, wo die Opposition während der Schlussverhandlungen dafür warb, wenigstens ein paar Milliarden mehr für Munition einzuplanen, wurde das ab­gewiesen. Anfang Dezember schließlich versuchte Lambrecht die Kehrtwende und bat Lindner um mehr Geld für Munition. Die Absage folgte prompt. Lambrecht habe das ja weder im Haushalt noch im Sondervermögen einplanen wollen, wieso also jetzt? – fragte das Finanzministerium spitz. Und Lindners Leute ermunterten das Verteidigungsressort und dessen Chefin, abermals „komplizierte, teils intransparente und in­konsequente Bedarfsplanung sowie bürokratische Bestellprozesse“ zu ändern. Gern mit ihrer Hilfe.

Davon wollte Lambrecht abermals nichts wissen, wenige Woche später trat sie zurück. Vom 100-Milliarden-Sondervermögen waren zu diesem Zeitpunkt etwa 40 Millionen abgeflossen. Kurz vor Jahresschluss hatte Lambrecht noch rasch einen Vertrag über 35 Exemplare des amerikanischen Kampfflugzeugs F-35A Lightning unterschrieben. Die Einzelbestellung kostete etwa acht Milliarden Euro und verbesserte die Jahresbilanz zum Sondervermögen optisch sehr. Der Preis dafür ist ein Vertrag, der dem amerikanischen Unternehmen alle Optionen für Kostensteigerungen überlässt. So waren bis zum Jahresende bei der Truppe weder aus dem Sondervermögen noch aus dem Vertei­digungsetat nennenswerte Verbesserungen angekommen.

Vorige Woche präsentierte der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius vor der SPD-Fraktion ein schonungsloses Fa­zit der vergangenen Jahre und die Eröffnungsbilanz seiner Amtszeit: „Wir haben keine Streitkräfte, die verteidigungsfähig sind – also verteidigungsfähig gegenüber einem offensiven, brutal geführten An­griffskrieg“, sagte er bei einer Veranstaltung der SPD-Bundestagfraktion zum Thema „Zeitenwende“. Er wiederholte da­mit, was sein oberster Heeresgeneral Alfons Mais am Morgen nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine mit den Worten „Wir sind blank“ zum Ausdruck gebracht hatte.

Seither sind zwölf Monate vergangen. Fachleute in Politik und Streitkräften sind sich einig: Es ist nicht besser geworden, eher schlimmer. Die Bundeswehr befinde sich weiterhin „im freien Fall“, sagte der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, André Wüstner, kürzlich. Zwei Ursachen hat die Misere, eine äußere, eine innere: Von außen wirkt der Ukrainekrieg immer intensiver in die deutschen Streitkräfte: Hunderte Fahrzeuge werden abgegeben, darunter hochmoderne Waffensysteme, Munition und Ersatzteile. Immer mehr Personal ist mit der Aus- und Fortbildung Tausender ukrainischer Soldaten und Of­fiziere befasst. Alles kommt aus einer Bundeswehr, die vorher schon ein Mangelbetrieb mit erheblichen Material- und Personalproblemen war.

Dennoch geschieht zu wenig. Zunächst verzögerte sich der Start des Programms „Sondervermögen“ um Monate. Erst im Juni kam es durch den Bundestag. Der Wirtschaftsplan, also die Details der Be­schaffungsvorhaben, wurde erst im Spätherbst fertig. Vorige Woche, ein Jahr und drei Tage nach Beginn des russischen Krieges, bekamen die Mitglieder eines parlamentarischen „Begleitgremiums“ erstmals einen Bericht über geplante Be­stellungen und den Stand der Dinge.

Das Sondervermögen schrumpft wegen der hohen Inflation

Gegenüber dem Ursprungsplan, der 41 Milliarden für die Luftwaffe, 17 Milliarden für das Heer und 19 Milliarden für die Marine vorsah, dazu weitere 23 Milliarden für Digitalisierung, Bekleidung und ein wenig Forschung, hatte das Ministerium bereits stark abrüsten müssen. Der Rechnungshof hatte nämlich „erhebliche Mängel“ bei der Planung festgestellt und beklagt, Zinsen und Inflation seien auf dem Wunschzettel der Bundeswehr unberücksichtigt geblieben. Das Ministerium musste Rüstungsgüter im Wert von rund zehn Milliarden Euro wieder von der Liste streichen, beziehungsweise in einen Korb von Zweitwünschen legen. Davon war vor allem die Marine betroffen, die auf zwei der geplanten sechs neuen Fregatten verzichten soll, ebenso auf wenigstens vier von zehn neuen Korvetten. Aber auch ein Nachfolger des Transportpanzers Fuchs, eine moderne U-Boot-Verteidigung und weitere Projekte, darunter Drohnen, wurden aufgeschoben.

Derweil wanderten immer mehr ältere Alltagsprojekte aus dem regulären Etat in das Sondervermögen. Für die gab es zwar frühere Bundestagsbeschlüsse, aber kein Geld. Um den stark wachsenden Bedarf an Treibstoff, Munition und Übungsbetrieb überhaupt decken zu können, wurde der Etat für militärische Beschaffungen – also Panzer, Haubitzen, Lastwagen oder Sturmgewehre – in diesem Jahr im Vergleich zum vorigen um fast zwei Milliarden auf 7,7 Milliarden gekürzt. Das be­deutet: Um den stark unterfinanzierten Normalbetrieb der Bundeswehr überhaupt noch zu ermöglichen, werden Standardanschaffungen nun ins Sondervermögen verschoben. Ebenfalls stark reduziert wurden militärische Forschungsausgaben. Der CDU-Haushaltspolitiker Ingo Gädechens sprach von einem „Kahlschlag“ ausgerechnet dort, wo für die Streitkräfte von morgen geforscht werde.

Das Sondervermögen selbst schrumpft derweil ohne jede Neubestellung im laufenden Jahr weiter um Milliarden durch Inflation und Währungskosten. Munition ist etwa um ein Vielfaches teurer geworden. Wer heute die Lager füllen muss, weil er es gestern versäumt hat, zahlt das fünffache der Vorkriegspreise. Um die Bundeswehr bis Ende des Jahrzehnts tatsächlich zur Landes- und Bündnisverteidigung zu befähigen, bräuchte man nach Ansicht der Wehrbeauftragten Eva Högl (SPD) wei­tere 200 Milliarden Euro. Um den Wehretat auf die in der NATO verabredeten zwei Prozent der Wirtschaftsleistung zu steigern, wären zunächst etwa 25 Milliarden jährlich nötig. Ohne eine Neuordnung der Rüstungsindustrie und des Be­schaffungswesens, da sind Fachleute sich einig, würde zusätzliches Geld die Probleme nicht lösen.

Source: faz.net

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