Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 09/2023.
Meine Oma ist ein Goldfisch. Durch ihre dicken und sehr großen Brillengläser werden ihre Augen grotesk vergrößert, weshalb ich sie liebevoll Goldfisch nenne. Ich weiß, dass Goldfische ein gutes Gedächtnis haben, bis zu fünf Monate können sie sich zurückerinnern, das schafft meine Oma nicht mehr. Heute habe ich sie auf dem Weg durch den Speisesaal verloren. Es sind nur 20 Meter geradeaus durch den Raum bis zur Terrasse, aber sie ist irgendwo abgebogen, hat mich schon wieder vergessen. Meine 95-jährige Oma ist demenzkrank, und seit Opas Tod hat sie einen richtigen Schub, sie schwimmt mehr durch die Tage, als dass sie sich an festem Grund orientiert. Meine Mutter und ich haben die Pflege nicht mehr geschafft, nun ist Oma seit Kurzem in einem Altersheim. Es bricht uns das Herz, aber es ging nicht mehr anders, wir haben es so lange wie möglich hinausgezögert.
Kurz vor ihrem Umzug hätte Oma fast ihre kleine Mietwohnung in Brand gesetzt. Nach Opas Tod aß ich regelmäßig mit ihr zu Mittag, auch um ihr die Würde zu schenken, noch jemanden bewirten zu können. Wir machten immer Arbeitsteilung: Sie kochte, na ja “kochte”, es war eher ein Aufwärmen und Zusammenschütten, und ich deckte den Tisch, versuchte Untersetzer zu finden, die noch einigermaßen sauber waren, stellte Teller, Besteck, Gläser und die Pillendöschen bereit, holte das Staatlich Fachingen aus dem Keller, das sie immer trank. Oma hatte nur Pflegegrad 1, und niemand außer uns kümmerte sich darum, dass sie ihre Tabletten auch in der richtigen Menge und zur richtigen Tageszeit nahm, wir aber konnten nicht rund um die Uhr bei ihr sein, weshalb sie es manchmal vergaß, auch mal die doppelte oder gar dreifache Menge einwarf, was schon zu Kreislaufproblemen, Stürzen und einem Krankenhausaufenthalt geführt hat. Seitdem hat sie den Rollator.
Omas Mittagessen war in den letzten Jahren zu einem in Fett ertränkten Eintopf verkommen, in dem Fertigbratkartoffeln und bis zur Besinnungslosigkeit zerkochtes Gemüse in einer undefinierbaren Flüssigkeit schwammen. Die Fettaugen an der Oberfläche sahen mir tief in die Seele und machten mir Angst. Aus Liebe zu meiner Oma würgte ich aber trotzdem immer ein paar Löffel davon herunter, ansonsten hielt ich mich an den Salat, auch wenn er mal in Essig ertrank, dann hatte sie das Öl vergessen, aber die doppelte Portion Kräuteressig verwendet.
Kurz bevor sie ins Altersheim kam, saßen wir also Punkt 12.30 Uhr am Esstisch, als ich den Geruch von Verbranntem wahrnahm. Ich stürzte in die winzige Küche, Oma hinterher, vom Herd qualmte es dunkel, die Gasflamme war zwar kleingestellt, aber eben nicht ausgestellt worden, in der Bratpfanne schrumpelten schwarze Reste Teufelsbratkartoffeln. Ich wuchtete die Pfanne in die Spüle, meine Oma drehte den Gasregler hoch und legte ein Küchenhandtuch auf die Flamme, die gleich gierig begann, sich das Tuch einzuverleiben: Es brannte. Meine Oma wich erschrocken zurück, ich löschte, riss das Fenster auf, im Flur ging der Pieper an der Decke an, den meine Oma routiniert mit einem Regenschirm zum Schweigen brachte. Ich wedelte, wischte und weichte ein. Dann setzten wir uns wieder an den Esstisch.
Meine Oma beschwerte sich über die Temperatur des Essens, mit einer Vehemenz, als sei sie in einem Restaurant und würde gleich den Service rufen wollen und hätte nicht eben fast ihre eigene Küche abgefackelt. In einer Gesprächspause hörte ich es plätschern. Ich stand auf, horchte, pirschte und riss die Badezimmertür auf, das Waschbecken lief über. Das war der Moment, in dem auch ich begriff, dass es so nicht mehr weiterging.
Meine Mutter hatte Oma schon Wochen vorher in einem Heim auf die Warteliste setzen lassen, sie war mit ihren Kräften am Ende, jetzt sah auch ich es ein. Ich drehte den Wasserhahn zu, löste den Stöpsel, meine Oma sagte: “Na so was.” Als hätte sie nichts damit zu tun. Ihre großen Kugelaugen schwammen durch Bruchstücke ihres Kurzzeitgedächtnisses, sie sah mich hilflos durch ihr riesiges Achtzigerjahre-Brillengestell an, wo ihre neueste Brille ist, wissen wir nicht, niemand kann sie mehr finden. Ich beruhigte sie. Ich wusste ja, was sie gewollt hatte: Löschwasser sammeln. Dass es gebrannt hatte, daran konnte sich meine Goldfischoma aber schon nicht mehr erinnern …
Ihr Alltag bestand seit Jahren im Grunde nur noch aus Suchen und begonnenen, aber nicht zu Ende geführten Tätigkeiten. Sie verbrauchte deswegen sehr viele Kalorien. Essen, das für zwei bis drei Tage reichen sollte, war oft bereits am nächsten Tag verspeist, weshalb meine Mutter hochfrequent für sie einkaufte. Unser WhatsApp-Chat sah beispielsweise so aus: Mama: Habe gestern 700 Gramm Spargel gekauft, die liegen im Kühlschrank. (In feuchtem Tuch eingewickelt!) Daneben steht fertige Hollandaise. Lasst es euch schmecken. Ich: Kein Spargel, keine Soße mehr da. Oder: Brauchst keine Kekse mitbringen. Habe ihr gestern zwei Packungen in den Schrank gelegt. Wie viele Kekse pro Tag passen in eine demenzkranke Oma?
Demenz ist eine sehr hungrige Krankheit, das weiß ich auch von meiner anderen, bereits verstorbenen Oma, die Alzheimer hatte und in deren Kühlschrank ich mal über 20 Sahnejoghurts fand. Alzheimer ist auch eine sehr knitterige Angelegenheit, das wurde klar, als ich die vier Bügeleisen in ihrem Kleiderschrank inspizierte, alle innerhalb von Tagen bei Aldi im Angebot gekauft. Die Kassenbons lagen noch in den Tüten. Sie hatte mir die Bügeleisen wie Fremdkörper gezeigt, nachdem sie mir die Wohnungstür geöffnet hatte, dabei trug sie den BH über dem Pullover. Es war einer dieser steifen, beigefarbenen Büstenhalter mit spitz zulaufender Form, der nun den Strickpullover und die Brüste unter sich erstickte. “Oma, du hast da was verwechselt.” – “Ich hab mich schon gewundert, warum der heute so stramm sitzt.” Wir gingen ins Schlafzimmer, um die Reihenfolge der Oberbekleidung zu ändern, da machte sie den Schank auf und fragte: “Brauchst du eigentlich ein Bügeleisen?” Sie zeigte auf die vier Aldi-Tüten. Sie hatte keine Ahnung, wo die herkamen, diese Bügeleisen-Schlingel, die sich gegen ihren Willen zwischen den Pullovern vermehrten.
Demenz frisst dir die Persönlichkeit schneller weg, als du dich von ihr verabschieden kannst.
Meine Goldfischoma hat im Heim stark abgenommen, weil sie jetzt keine 700 Gramm Spargel mehr am Tag weghauen kann, sondern vier geregelte Mahlzeiten einnimmt, davon nur eine warm, sie aber trotzdem immer noch sucht und sucht und sucht. Es kann aber auch an dem jetzt intensiven Gebrauch des Rollators liegen. In ihre enge, alte Mietwohnung hatte der nicht gepasst, weshalb er ein paar Monate einsam unten im Treppenhaus stand und auf Einsatz wartete, jetzt im Heim pest Oma regelrecht durch die Gänge, in die Fahrstühle, in den Garten, sie ist die schnellste Maus des Altersheims und schmilzt aus ihren C&A-Hosen.
Vor einigen Tagen hatte Oma ihr Gebiss verloren, die ganze Station war alarmiert, sie hatte das komplette Heim danach abgesucht; in ihrer Handtasche, die sie oft vorne in ihrem Rollator verstaut, tauchte es nach Stunden wieder auf. Sie fand es, als sie nachsehen wollte, ob sie genug Geld für Kaffee und Kuchen dabeihabe – der Aufenthalt im Heim erscheint ihr noch als gigantische Kreuzfahrt –, und strahlte mich und die Pflegerin dann mit Kukident-2-Phasen-Lächeln an: “Ich habe meine Zähne gefunden!” Wir gratulierten erleichtert.
Ich stehe draußen auf der Terrasse, lege meine Hände an die Scheibe, schirme das Sonnenlicht ab und suche meine falsch abgebogene Oma im Saal. Wegen der Pandemie darf ich mich im Speisesaal nicht aufhalten, durchgehen ja, aufhalten nein, trotz Maske, Negativtest und Impfung nicht.
Oma und ich hatten das vorher an der Tür des Saals besprochen: Wir gehen geradeaus durch, auf die Terrasse und von da in den Garten, und dann drehen wir eine kleine Runde, ja? Ich hätte hinter ihr gehen sollen.
Drei Frauen an einem Tisch in der Nähe des Fensters sehen mich mit großen, wässrigen Augen an. Auch sie schwimmen durch die Zeit in diesem Aquarium, suchen mit Blicken Halt, sehen in mir nur Besuch, der nicht ihnen gilt. Besuch, der nicht gekommen ist, um ihren Alltag zu unterbrechen. “Wer bist du? Wessen Besuch bist du?”, fragen diese Augen, dazu gehen ihre Münder lautlos auf und zu. Ich winke ihnen zaghaft. Sie lächeln und winken zurück, ihre Kuchengabeln winken, ihre Hände winken, ihre Wimpern winken. Meine Oma sitzt am Tisch dahinter und schenkt sich gerade einen Tee ein. Ich winke energischer und zeige auf meine Oma, aber die Frauen nicken nur und stecken ihre Kuchengabeln in rechteckige Mandarine-Schnitten.
Ich will reingehen, um Oma zu holen, aber vor der automatischen Schiebetür hat sich ein kleiner Stau gebildet: Zwei Rollstühle haben sich ineinander verkeilt. Die Frau, die rauswill, hat sehr blaue Augen, der Mann, der reinwill, hat sehr wenig Geduld. Beide ruckeln und rütteln an den verkeilten Rädern. “Immer dasselbe mit dir!”, schimpft der Mann, hinter ihm kommentieren andere, ob es bald mal weitergehe, was denn da los sei, und meine Güte. Einer will wissen, ob ich öfter hier sei, er flirtet mich hart von links unten an, ein Ü80-Hecht im Rollstuhl, wir lachen. Ob ich irgendwie helfen könne, frage ich in die Runde. Aber nein, bitte nicht, so weit komme es wohl noch, dass ich ihnen den letzten Rest Selbstständigkeit raube! Hallo? Also stelle ich mich hinten an und warte. Irgendwann lösen sich die verkeilten Räder, und die Frau mit den blauen Augen schwimmt gezielt auf mich zu. “Ich habe MS”, sagt sie zur Begrüßung und strahlt. “Das tut mir leid”, sage ich. Fünf Minuten später kenne ich die grob umrissenen Stationen ihres Lebens, den Verlauf ihrer Krankheit und ihre Trauer darüber, da sie doch immer sehr sportlich gewesen sei. “Und nun”, sagt sie, “warte ich hier auf den Tod.” Uff. Was kann ich hierauf Höfliches antworten? Ich denke: Ja scheiße, genauso ist es, da dreht sie sich auch schon weg und steuert auf einen Terrassentisch zu.
In der Mitte des Speisesaals steht jetzt eine Betreuerin mit Gitarre. Sie singt: Stein auf Stein, Stein auf Stein, das Häuschen muss bald fertig sein. Dazu rasseln manche Bewohner und Bewohnerinnen mit eiförmigen Perkussionsinstrumenten, mal im Takt, mal nicht. Die Alten sehen nicht unglücklich aus, das nicht, im Gegenteil, aber etwas an dieser Szene fasst mich tief an. Ich versuche mir vorzustellen, dass auch ich eines Tages ein Goldfisch in einem Aquarium sein werde und so eine Rassel in meinen alten, knotigen Fingern halten werde. Ich habe leider keine Kinder bekommen können und frage mich, wer mich dann besuchen würde. Oder, noch schlimmer, ob mich überhaupt jemand besuchen würde und ob sich meine Augen dann auch so an den Enkeln der anderen festsaugen würden. Was bleibt vom eigenen Leben übrig, wenn nach einem niemand mehr kommt? Wie viele Freundschaften pflege ich mit jüngeren Menschen? Für wen werde ich noch Bedeutung haben? Und welche Kinderlieder kenne ich überhaupt noch? Mir fällt spontan nur Hejo, spann den Wagen an ein. Vielleicht könnten sie in meinem Aquarium später Dead Kennedys spielen, da wäre ich wahrscheinlich textsicherer.
Eine Angestellte kommt auf mich zu und sagt, dass ich mich im Speisesaal nicht aufhalten dürfe und ob sie mir helfen könne. Ich antworte, dass ich mit meiner Oma in den Garten wollte, sie aber im Saal hängen geblieben sei. Wir gucken zu ihr rüber, sie lächelt und winkt mir überrascht zu. Die Pflegerin sagt, sie bringe Oma auf die Terrasse, ich solle schon mal vorgehen. Die Alten singen, manche schütteln ihre Eirasseln. Andere stochern in ihren Kuchenschnitten. Poch, poch, poch; poch, poch, poch: Der Schuster schustert zu das Loch.
Vor ein paar Tagen hat mich meine Schwester angerufen, Oma habe ihr am Telefon erzählt, ich sei ihre beste Freundin. Sie habe gesagt, dass wir uns nur anzusehen bräuchten und beide genau wüssten, wie es uns gehe. Da musste ich weinen. Dass meine Oma mich so sieht. Dass sie das als Freundschaft sieht. Oma und ich sind uns tatsächlich sehr nahegekommen seit Opas Tod. Sie bespricht mit mir zwischen zwei Kniffel-Würfen Sachen, die sie sonst mit niemandem ansprechen mag. Der frühe Tod eines ihrer Kinder, noch im Krankenhaus, kurz nach der Geburt, und dass sie immer noch an das Baby denken müsse, gerade weil man es ihr nicht gezeigt habe, zum Beispiel. Sexualisierte Gewalt zum Beispiel. Wie manche Männer sie behandelt haben zum Beispiel. Sticheleien von anderen Frauen zum Beispiel. Manchmal zeigte sie mir die aktuelle Post, mit der sie überfordert war. Einen Brief von ihrer Bank. Meine Oma sagte, sie verstehe kein Wort, ob ich ihr sagen könne, was die von ihr wollten. Ich las, dass ihr Konto nur noch über Online-Banking und eine App zugänglich sei, Bitte scannen Sie den QR-Code mit Ihrem Smartphone … Dieser Satz ergab für meine Oma gar keinen Sinn. Sie hat weder ein Gerät, mit dem sie ins Internet könnte, noch weiß sie, was ein QR-Code ist oder was genau dieses Scannen und das Internet sein sollen.
Meine Oma, Jahrgang 1927, wird im Alter von der Gesellschaftsentwicklung regelrecht ausgegrenzt und abgehängt. Mehrmals täglich rief sie mich aus ihrer Wohnung an, immer hatte sie das Gefühl, Mist gebaut zu haben, nicht mehr mithalten zu können mit den Anforderungen der hochdigitalisierten Welt. Vielleicht bestelle ich ja später mit 95 aus Versehen immer Flugtaxen mit meiner Smartbrille, weil ich falsch geblinzelt habe, oder was weiß ich, keine Ahnung, wie die Welt dann sein wird, aber ich komme auch jetzt schon oft nicht dem Tempo hinterher, mit dem sich digitale Anwendungen ändern. Wie soll das noch werden in 30 Jahren? Wer richtet mir an Weihnachten meinen Robot neu ein? Oder erklärt mir die Smartbrille? Ich habe nicht wirklich Lust aufs Altern, solange die Gesellschaft mich als Ballast oder Hindernis sieht oder maximal als Person, die man ausnehmen kann.
Manchmal klingelte bei Oma das Telefon, kurz nachdem wir sie besucht hatten. Stichwort Enkeltrickbetrüger. Einmal, das fand ich besonders schlimm, ich war gerade auf Lesereise und saß irgendwo in der Empfangshölle im Allgäu im Zug, rief meine Oma mich weinend an. Ob ich wisse, in welchem Krankenhaus Mama nun sei? Sie habe einen Umschlag mit allem Bargeld fertig gemacht, das sie finden konnte, aber sie habe keine 2000 Euro, nur 350, und das reiche ja nicht. Ich fragte alarmiert, aber ruhig, was genau passiert sei. Oma sagte, sie habe einen Anruf von der Polizei erhalten, dass Mama einen Unfall hatte, kurz nachdem sie von ihr weggefahren war, und jetzt im Krankenhaus sei. Und nun solle sie Geld bezahlen für den entstandenen Schaden. Ein Beamter werde das Geld gleich bei ihr abholen. Die Verbindung riss immer wieder ab, und zwischen vielen Oma-hörst-du-michs sagte ich: “Bitte lass niemanden rein. Verriegle die Tür. Niemandem öffnen, auch nicht in Polizeiuniform, hörst du? Ich rufe jetzt Mama an und melde mich dann wieder bei dir.” Ich erreichte meine Mutter putzmunter in einem Supermarkt und bat sie, Oma anzurufen, zur Polizei zu gehen und Anzeige zu erstatten. Oma erreichte ich erst aus dem nächsten Städtchen wieder, das mir zwei Balken Empfang schenkte.
Der Polizist meinte übrigens zu meiner Mutter, dass das organisiertes Verbrechen sei, alte Menschen würden regelrecht ausgespäht und beobachtet und gezielt nach einem Besuch telefonisch kontaktiert.
“Wie schön, dich zu sehen!”, ruft Oma und kommt mit ihrem Rollator durch die Terrassentür auf mich zu. Ich freue mich auch. Sie hat es endlich zu mir raus geschafft. Es ist ja nicht so, dass wir uns heute nicht schon begrüßt hätten, du kleiner Goldfisch. Die Pflegerin hinter ihr drückt mir ein Tablett mit einer Kanne Tee und zwei Tassen in die Hand. Ausnahmsweise, meint sie, eigentlich darf ich keinen Tee hier mittrinken. Oma und ich steuern einen Tisch in der milden Sonne etwas abseits der Terrasse im Garten an. Wir setzen uns. Sie trägt die Kette, die Mama ihr neulich geschenkt hat. Pastellfarbene Steinperlen in Grün- und Blautönen, sieht richtig gut an ihr aus. Seitdem meine Oma im Heim ist, kleidet sie sich wieder sorgfältiger.
“Mädchen, ich hab uns einen Tee gekocht”, sagt sie und schenkt uns ein. In ihrer alten Wohnung habe ich sie manchmal massiert. Dazu setzte sie sich im Unterhemd auf einen Stuhl, und ich strich ihr ganz sanft die Schultern und den stets verspannten Nacken aus. Jetzt kraule ich ihr bei jedem Besuch kurz den Nacken. Ich kann die Gänsehaut kommen sehen. Neuerdings besitze ich zwei Unterhemden von Oma, in die sie selbst ihre Namensschilder eingenäht hat, zwei Unterhemden, die ich regelmäßig trage. Genau: Ich trage die Unterhemden meiner Oma. Haters gonna hate, lovers gonna love. Die Namensschilder habe ich dringelassen. Ich benutze jetzt täglich ihr Salatbesteck. Ich habe jetzt eine Kristallschale, gefühlte drei Kilo Stopfgarn aus den Sechzigern und Opas SPD-Parteibücher. Omas Wohnung habe ich vor Kurzem an die Hausverwaltung übergeben. Das Klingelschild habe ich aufbewahrt, es klemmt in meiner Handyhülle. Zwei Hortensien habe ich aus dem Gärtchen mitgenommen. Alles, was Oma jetzt noch besitzt, passt in zwei Kartons und einen Kleiderschrank. Ihr Leben und ihr Besitz fasern langsam aus, alles schrumpft wieder zusammen im Alter. Und jetzt wohnt sie hier in diesem Aquarium. Sie vermisse nichts, meint sie. Wenn wir uns sehen, fotografiere ich sie, jedes Mal denke ich, vielleicht war es das letzte Mal, manchmal nehme ich ein Video von ihr auf, das ich dann meiner Schwester und meinen Cousinen schicke.
Als sie noch nicht im Heim war, habe ich Oma und mir eine Pizza in ihre Wohnung bestellt, wir waren zum Abendbrotessen verabredet gewesen, aber der Kühlschrank war leer, also fragte ich sie, ob sie Pizza mag. “Glaub schon”, meinte sie. Ich das Telefon rausgeholt, nach einem Pizzaservice gegoogelt, einen um die Ecke gefunden, Pizza ausgewählt, Oma wollte Margherita, per PayPal bezahlt und ihr gesagt, Pizza komme in 40 Minuten. Wir deckten den Tisch und kniffelten, bis es klingelte. Meine Oma wusste da schon nicht mehr, worauf wir warteten, und fing dann an, hektisch nach Geld zu suchen. Ich: “Oma, ich hab die Pizza schon bezahlt.” Sie: “Wann? Womit?” Ich: “Mit einem digitalen Bezahlsystem, das PayPal heißt.” Oma: “???”
Wie wir dann da saßen, die Pizza im Pappkarton zwischen uns, und meine Oma mit Messer und Gabel an dem ersten Stückchen auf ihrem Teller säbelte, ich hatte sie noch nie zuvor Pizza essen sehen, wie sie kaute und schluckte und sagte: “Nicht schlecht.”
Wir pusten in unsere Teetassen, dann fummelt Oma an ihrem Sturzarmband, sie mag das Gefühl des Plastiks auf der Haut nicht und macht einen Witz darüber, dass sie schon zweimal Fehlalarm ausgelöst habe mit dem Ding und plötzlich seien aus allen Himmelsrichtungen Pflegekräfte angelaufen gekommen. “Zu Recht”, sage ich. Ein paar Tage nach ihrem Einzug ins Heim ist Oma nachts auf dem Weg zur Toilette gefallen und hat sich dabei drei Rippen gebrochen. Sie war deswegen ein paar Tage zur Beobachtung im Krankenhaus. Jetzt sitzt sie vor mir, als sei das alles nichts, aber ich weiß, wie langsam Rippenbrüche heilen und wie schmerzhaft es ist. Ich frage Oma, wie es ihr geht. Gut, sagt sie, ich solle mich nicht sorgen, alle seien reizend zu ihr. Sie mache ja noch alles selber und komme gut zurecht. Sie koche regelmäßig und wasche auch ihre Wäsche selber, ich verschlucke mich fast, aber ich widerspreche nicht, ich lasse sie in dem Glauben, sie habe noch ihre Selbstständigkeit. Das Bewusstsein meiner Oma ist ein Puzzle, bei dem die Teile nicht mehr ganz ineinanderpassen, aber es stört sie nicht. Mich auch nicht. Manchmal legt sie ein Puzzleteil aus den Fünfzigerjahren direkt an eins aus den Achtzigern. Manchmal eins von gestern an eins in der Zukunft, manchmal verbindet sie Fantasie- oder Traumteile mit Ereignissen, die sie tatsächlich erlebt hat. Ich drifte mit ihr durch die vierte Dimension, ohne korrigierend einzugreifen, ich verstehe immer, was sie meint, wo sie gerade innerlich ist, wir kommen klar. Ich stelle Fragen, sie kaum noch. Wie sie mit den anderen Bewohnern und Bewohnerinnen zurechtkomme, möchte ich wissen. Ich habe den Eindruck, sie ist ruhiger geworden hier im Heim.
Die Wochen vor dem Umzug waren furchtbar. Es sah für mich von außen so aus, als würde sie ihre Lebensfäden durchtrennen. Sich von jedem Gegenstand lösen. Alles über die Jahrzehnte Angehäufte loslassen. Die Wohnung war in dieser Zeit ein absolutes Chaos. Meine Oma im Ausnahmezustand. Koffer, die meine Mutter am Vortag mit ihr gepackt hatte, waren am nächsten Tag, als ich kam, wieder ausgeräumt. Geschirr, das wir für eine Cousine aussortiert hatten, stand wieder im Schrank. In allen Schubladen war alles. In keiner Schublade war etwas. Es gab keine Ordnung mehr, kein System. Die Auswahl an Dingen, die sie letztlich mitgenommen hat, habe ich immer noch nicht verstanden: einen leeren Briefumschlag ihrer Krankenkasse? Eine von vielen Trauerkarten zu Opas Tod, aber warum ausgerechnet jene von dieser ihr nicht besonders nahestehenden Person? Vor allem verstehe ich diese Auswahl nicht im Verhältnis zu dem, was sie vor dem Umzug alles zerstört und weggeworfen hat.
Seit 20 Jahren war eigentlich klar gewesen, dass ich einmal alle Briefe meiner Großeltern erben sollte, so hatten sie es mir immer gesagt und mir auch gezeigt, wo die Tasche mit den wichtigen Unterlagen stand, darin das ebenfalls mir zugedachte Familienbuch mit allen Geburts-, Heirats- und Sterbeurkunden meiner Vorfahren. Angeblich stammt die Familie meiner Oma von einem unehelichen Kind eines polnischen Grafen ab, der Ossowsky hieß. Ich würde das alles so gerne noch mal nachsehen, aber meine Oma hat das komplette Buch mit einer Nagelschere zerschnitten und weggeworfen. Und nicht nur das, auch die Briefe zwischen Opa und ihr. Ich bin richtig sauer geworden, als ich in einer leeren Kleenex-Verpackung die Schnipsel fand, obwohl ich wusste, dass es die Krankheit war, nicht sie. “Oma, die wolltet ihr mir doch mal vererben”, sagte ich traurig und leise. “Stimmt”, sagte sie. Und: “Ein paar hab ich noch irgendwo.” Sie fing an zu suchen, wurde aber bald von etwas abgelenkt, einem Fotoalbum, und während sie erzählte, was 1964 war, steckte ich mir heimlich die Schnipsel in die Hosentasche. Sie kann doch nicht einfach so meine Herkunft zerschneiden? Zu Hause rekonstruierte ich anhand der Schrift und Papiersorte vier ganze und zwei halbe Briefe und klebte sie mit Tesafilm zusammen. Durfte ich das? Es waren ja ihre Briefe, sie konnte damit doch machen, was sie wollte? Ich beschloss, sie erst nach ihrem Tod zu lesen. Zwei Wochen später stand Oma vor mir und überreichte mir die letzten verbliebenen Briefe zwischen ihr und meinem Opa, an dem ich sehr gehangen hatte. Von dem ich Schach gelernt hatte und abstraktes Denken.
Etwa zehn Briefe sind übrig geblieben aus den 77 Jahren, die sich meine Großeltern kannten. Es war mal ein ganzer Karton voll, Omas Nagelschere muss jetzt stumpf sein. Sie stand vor mir und überreichte mir den Rest mit einem tiefen Blick in die Augen, es war rührend. “Nimm, mein Mädchen, nimm sie.”
Das war bei meinem letzten Besuch in ihrer alten Wohnung. Zum Abschied hatten wir immer eine Ritualkette aus Handlungen und Dialog: Abschied an der Wohnungstür. “Ich hab dich lieb, Oma.” – “Komm gut nach Hause, Mädchen.” Ich ging das Stockwerk hinunter bis zur Haustür. “Ist offen, Oma.” – “Na dann ist gut.” – “Bis bald.” – “Bis bald, Karen.” Ich ging ums Siedlerhäuschen herum. Währenddessen ging Oma ans Wohnzimmerfenster. Ich drehte mich um und sah, wie sie die Gardinen auseinanderschob und winkte. Ich winkte zurück. So war es immer gewesen. Beim letzten Mal machte ich ein Foto von ihr. Und als ich die Male danach die Wohnung verließ, als sie schon im Heim war, blickte ich stets hoch zu dem leeren Fenster, aus dem jetzt niemand mehr winkte.
Oma erzählt mir gerade zum elften Mal oder so, dass sie heute beim Friseur war, was nicht stimmen kann, denn Friseurtag ist donnerstags, und der eingetragene Termin auf dem Zettel in ihrem Zimmer gibt das Datum von nächster Woche an. Und ich antworte zum elften Mal oder so: “Sieht gut aus.” Dann wird sie plötzlich ernst und ganz klar und fragt mich, was das Heim koste und wer das bezahle. Ich erkläre ihr die Summe und die Zusammensetzung, dass sie nun Pflegegrad 2 bekommen habe und ein Teil von den Versicherungen getragen werde. Den anderen Teil müsse sie selbst zahlen. Dass ein Teil davon durch die Witwenrente abgedeckt sei, aber sie auch monatlich etwas vom Sparbuch nehmen müsse. Dass das alles automatisch laufe und sie sich nicht zu kümmern oder zu sorgen brauche. “Wie lange reicht das Geld?”, fragt Oma. Ich bleibe vage, aber sie insistiert: “Wie lange?” Ich rechne. “Knapp drei Jahre, Oma.” Sie nickt, dann blickt sie düster. Opa habe immer gesagt, es sei alles geregelt, sie müsse sich nicht sorgen. Warum sie sich bitte nie darum gekümmert habe, sie sei so gut in Mathe gewesen!? Ich streichle ihren Nacken. Meine Oma macht mit 95 Jahren eine Emanzipationsphase durch, und ich feiere sie dafür, auch wenn das sehr spät ist. Ich frage sie, ob ich über sie schreiben dürfe. Nur zu, sagt sie, nur zu.
Es ist frisch geworden und bald Zeit fürs Abendbrot, also machen wir uns auf den Weg nach drinnen. Wir verabreden, dass wir uns nicht lange im Speisesaal aufhalten, dass ich nur das Tablett zum Tresen bringe und sie mich noch zur Tür begleitet. Diesmal gehe ich hinter ihr. Maske auf und los.
An einem Tisch im Saal falten Bewohnerinnen nach Anleitung Geschirrhandtücher und sehen glücklich dabei aus. Andere dümpeln in ihren Tagträumen.
Im Foyer stehen wir uns gegenüber, ich umarme Oma. “Du machst das alles ganz toll, Oma. Ich hab dich lieb.” Sie mich auch und danke für den Besuch, sie wisse es sehr zu schätzen, was wir alles für sie täten. Ich öffne die Tür zum Treppenhaus und sage, dass ich ihr gleich aus der “Schleuse” hinter der Glastür nochmals winke. Sie tuckert um die Ecke, ich nehme den Ausgang zur Anmeldung, der Schleuse. Oma lächelt. Wir winken uns durch die verriegelte Glasschiebetür zu. Ich gehe durch die Eingangstür nach draußen. Oma winkt immer noch. Ich nehme die Maske ab und winke zurück. Ich drehe mich wieder um und steige die Treppenstufen auf den Gehweg runter. Oma winkt tapfer weiter aus ihrem Aquarium. Ich winke zurück. Ich gehe bis zu der Hecke und drehe mich wieder um, der Goldfisch winkt immer noch. Ich winke zurück.