News: Türkei Opposition und Erdoğan, China Volkskongress, Xi Jinping, Olaf Scholz bei Joe Biden

Die Kernschmelze der türkischen Opposition

Es gibt Ereignisse, bei denen man nicht weiß, ob sie der Beginn von etwas Schrecklichem – oder von etwas Großartigem sind. Manchmal erscheint beides möglich.

So stellt es sich gerade im Land mit der wahrscheinlich verrücktesten Innenpolitik der Welt dar. Man kann die derzeitigen Vorgänge in Ankara nur als ungeheuerlich beschreiben. Was ist passiert? Kurz gefasst: Vergangenes Jahr haben sich sechs Oppositionsparteien zu einem sogenannten »Sechser-Tisch« zusammengefunden, um bei den diesjährigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen gemeinsam gegen Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan anzutreten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird am 14. Mai gewählt. Nach jedem Treffen des Sechser-Tisches gab es harmonische Bilder.

Das Treffen des »Sechser-Tisches« und das Kommuniqué über die Kandidatenfrage

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So ein Bündnis gab es noch nie, und trotz all seiner Schwächen dürfte es Hoffnungen bei vielen Wählerinnen und Wählern geweckt haben, die sich einen Wandel in der Türkei wünschen.

Die Runde wollte sich auch auf einen gemeinsamen Herausforderer von Erdoğan einigen. Diese Einigung ließ allerdings auf sich warten. Schon ätzte Erdoğan, dass der Tisch nicht einmal einen Kandidaten hervorbringe . Dann erlebte das Land eine der schlimmsten Erdbebenkatastrophen seiner Geschichte.

Nun, fast vier Wochen nach der Katastrophe, kamen die Parteichefs dieses Sechser-Tisches zu einer entscheidenden Sitzung zusammen. Sie dokumentierten mit einem Kommuniqué inklusive Unterschriften, dass sie sich auf einen Kandidaten geeinigt hätten und diesen kommende Woche vorstellen wollten.

Es kristallisierte sich, wie lange geahnt (oder von manchen auch befürchtet) Kemal Kılıçdaroğlu heraus, Chef der säkularen »Republikanischen Volkspartei«, CHP, der stärksten Oppositionspartei.

Partei-Chefin Meral Akşener: »Kein Abnick-Verein!«


Foto: ADEM ALTAN / AFP

Doch nur einen Tag später trat die Frontfrau der nationalistischen IYI-Partei, Meral Akşener, vor die Presse und warf einfach alles um. Ihre Partei ist die zweitstärkste Kraft am Tisch. Die Einigung, unter der sie tags zuvor noch ihren Namen gesetzt hatte, galt nicht mehr. Das sei nicht der Wille des Volkes! Man werde sich dem nicht beugen! Alles wegen des persönlichen Ehrgeizes eines Mannes! Man sei kein Abnick-Verein! Nicht nur die Entscheidung, auch die Sprache war hart .

Akşener nannte zwei andere Namen, die laut Umfragen eine Chance gegen Erdoğan haben könnten: die Bürgermeister von Istanbul, Ekrem Imamoğlu, und Ankara, Mansur Yavaş. Sie forderte die beiden zur Kandidatur auf. Beide Bürgermeister sind CHP-Mitglieder – sie sollten also an ihrem Chef vorbeikandidieren – das bedeutete Akşeners Aufforderung. Fraglich, ob diese Strategie jemals aufgehen konnte, jedenfalls haben die beiden Herren sich bereits hinter ihren Chef gestellt.

Tatsächlich hat Meral Akşener schon häufiger durchscheinen lassen, dass sie gegen eine Kandidatur des CHP-Chefs ist, auch in einem Gespräch, das ich mit ihr vor Kurzem führen konnte . Die höfliche Formel lautete stets: Wir wollen mit einem Kandidaten antreten, der auch gewinnen kann – und das ist sicher nicht Kılıçdaroğlu. Mit der Höflichkeit scheint es jetzt vorbei zu sein.

Vermutete Reaktion bei Präsident Erdoğan vor dem Hintergrund des Konfliktes bei der Opposition.

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Akşener, die mit ihrer Partei eine nationalistische, laizistische, durchaus feministische Politik verfolgt und sie langfristig rechts von der Mitte sehen möchte, hat früh erklärt, dass sie selbst nicht kandidieren, sondern Premierministerin ihres Landes werden möchte. Sobald das Land nach einem Sieg der Opposition, also des Sechser-Tisches, wieder auf den Pfad der parlamentarischen Demokratie zurückgefunden hat.

Nach diesem politischen Stunt ist fraglich, ob die Wählerinnen und Wähler der Opposition den Wandel noch zutrauen. Ob die Opposition es schafft, sich noch einmal zusammenzuraufen – womöglich in anderer Konstellation, Kılıçdaroğlu deutete so etwas an. Was genau die Rechnung der erfahrenen Politikerin Akşener ist. Und ob alles das am Ende nur wieder dem starken Mann im Präsidentenpalast nützt.

Volkskongress ohne Volk

Gerade erst hat China den »Sieg« über die Coronapandemie erklärt, doch vorsichtshalber sollen Beobachter des an diesem Sonntag beginnenden Nationalen Volkskongresses die Nacht zuvor in Quarantäne verweilen. Man weiß ja nie. Einmal im Jahr, meistens im März, tritt das formal wohl größte Gesetzgebungsorgan mit seinen knapp 3000 Delegierten an, die die Entscheidungen der Zentralregierung absegnen. Es kommt eigentlich nicht vor, dass Gesetze abgelehnt werden. Was für ein China zeigt sich hier in diesem Jahr?

So sah die Eröffnung des Volkskongresses im vergangenen Jahr aus – In der Mitte vorne: Staatschef Xi Jinping


Foto: Andy Wong / dpa

Ein China, das die kurze Aufwallung seiner Bürgerinnen und Bürger am Ende von 2022 gegen die strikte Zero-Covid-Politik, und dann auch irgendwie gegen die Unfreiheit, wieder unter Kontrolle gebracht hat.

Eines, das Staatschef Xi Jinping nun womöglich lebenslang regieren wird – dafür spricht, dass er im vergangenen Oktober für eine dritte Amtszeit bestätigt wurde.

Es ist ein China, das einen neuen Premier präsentieren wird: auf Li Keqiang  folgt Li Qiang, der als Xi-nah, moderat und wirtschaftsfreundlich beschrieben  wird.

Und wir werden die »Volksvertreter« eines China sehen, dessen Gräben mit der westlichen Welt zuletzt seit dem russischen Angriff auf die Ukraine tiefer geworden sind, wie meine Kolleginnen und Kollegen in unserer aktuellen Ausgabe trefflich beschreiben. Allein, trotz aller geopolitischer und ideologischer Unterschiede – »Chimerica«, die Verheiratung der amerikanischen und chinesischen Volkswirtschaften, steht demnach nicht kurz vor der Scheidung. Noch nie haben USA und China so viel Handel miteinander betrieben wie momentan. Ein Handel, der auch einen Wandel mit sich bringt, wenn auch anders als ursprünglich gedacht.

Endlich mal in Ruhe quatschen

Der deutsche Bundeskanzler hatte einen Termin beim amerikanischen Präsidenten – und niemand war dabei. Aus Berlin war keine Wirtschaftsdelegation mitgereist, keine Presse, keine Kabinettsmitglieder waren zugegen. Es war auch keine gemeinsame Pressekonferenz geplant. Die beiden Staatschefs wollten allein im Oval Office sprechen, ohne Störfeuer, ohne, dass etwas durchsickert. Ein reiner »Arbeitsbesuch«. Das vorwiegende Thema: Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine – und womöglich auch, wie dessen Ende aussehen könnte.

Scholz und Biden im Oval Office des Weißen Hauses


Foto: ANDREW CABALLERO-REYNOLDS / AFP

Auch die beiden Öffentlichkeiten erwarten eine Antwort auf diese Eine-Million-Dollar-Frage. Deutschland mit seiner militärisch eher unerfahrenen Gesellschaft – aber auch die USA mit einer sehr kriegserprobten Gesellschaft. Die Unterstützung für den Kurs des Präsidenten schmilzt offensichtlich. Joe Biden, der offensichtlich über eine zweite Kandidatur nachdenkt, dürfte den Krieg gegen die Ukraine ungern mit in den Wahlkampf für die Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr mitnehmen wollen. Vor allem, wenn sich in der Ukraine kein spürbares Vorankommen der Ukrainer zeigt – trotz all der Waffenlieferungen, trotz all der Milliarden.

Zuletzt gab es zwischen Berlin und Washington eine gewisse Kakofonie wegen der Panzerlieferungen. Vereinfacht zusammengefasst: Die Amerikaner wollten, dass die Deutschen den Leoparden liefern, aber die Deutschen wollten dies nicht, zumindest nicht ohne Washingtons Zusage, auch Abrams-Panzer zu liefern (die aus Sicht des US-Militärs für den Krieg in der Ukraine ungeeignet sind). Man habe dem Druck aus Deutschland nachgegeben, hieß es. Was wiederum die Deutschen dementierten.

Der deutsche Bundeskanzler dürfte einer der wenigen Regierungschefs auf der Welt sein, der sich nicht nachsagen lassen will, dass er erfolgreich Druck ausgeübt hat.

Wie klein dieses Hin und Her vor der großen Frage nach dem Ende des Krieges plötzlich wirkt.

Mehr Nachrichten und Hintergründe zum Krieg in der Ukraine finden Sie hier:

  • Lawrow stellt Russland als Opfer dar – Publikum lacht ihn aus: Bei einer indischen Konferenz verbreite der russische Außenminister Lawrow seine übliche Propaganda zum Ukrainekrieg. Als er behauptete, dass in Wahrheit Russland angegriffen worden sei, lachte ihn das Publikum aus.

  • Rüstungskonzern Rheinmetall schafft Sprung in den Dax: Der Kurs der Rheinmetall-Aktie hat sich seit dem russischen Einmarsch in der Ukraine vor gut einem Jahr fast verdoppelt. Nun steigt der Rüstungskonzern in den Dax auf.

  • Kontroverse bei »Hart aber fair« – was in den Uno-Berichten steht: Bei »Hart aber fair« stritten Moderator Klamroth und Linkenpolitikerin Wagenknecht darüber, wer welche Kriegsverbrechen in der Ukraine begangen hat. Später relativierte die Redaktion der Sendung ihre Aussagen. Was war da los?

Hier geht’s zum aktuellen Tagesquiz

Die Startfrage heute: Seit wann darf man seine Stimme bei der Bundestagswahl auch per Brief abgeben?


Die jüngsten Meldungen aus der Nacht

  • Belgiens Verfassungsgericht billigt Gefangenenaustausch mit Iran: Der frühere iranische Diplomat sitzt in Belgien seit 2021 im Gefängnis – wegen eines geplanten Anschlags. Nun soll er im Gegenzug für einen in Teheran eingesperrten Mann ausgeliefert werden.

  • Rockband Lord Of The Lost gewinnt deutschen ESC-Vorentscheid: Auffällige Outfits, düsterer Sound: Eine Rockband vertritt Deutschland in diesem Jahr beim Eurovision Song Contest. Beim Vorentscheid setzte sich die Gruppe Lord Of The Lost durch.

  • Tom Sizemore ist tot: Er spielte an der Seite von Tom Hanks in »Der Soldat James Ryan« und lag seit Mitte Februar wegen eines Schlaganfalls im Koma. Jetzt ist der US-Schauspieler gestorben.



Die SPIEGEL+-Empfehlungen für heute

  • »Jobs zu schützen wäre ökonomischer Wahnsinn«: Der Ökonom Andrew McAfee forscht zu den Auswirkungen technologischer Entwicklung auf den Arbeitsmarkt. Für ihn steht fest: Künstliche Intelligenz kostet Jobs – schafft aber noch mehr .

  • Die Klein-Klein-Koalition: Immer wieder zerreibt sich das Ampelbündnis vor allem an verkehrspolitischen Themen. Das überschattet die Kabinettsklausur – und schädigt Deutschlands Ruf in Europa .

  • Lohnt sich jetzt ein Bausparvertrag? Bausparen galt als altbacken und unrentabel. Doch mit den kräftig steigenden Zinsen feiert das Traditionsprodukt ein Comeback. Der Überblick über Vor- und Nachteile .

  • Sind 140.000 Euro diesen Stress wert? Wer in einer Großkanzlei anfängt, bekommt ein hohes Gehalt, muss dafür aber bis zu 75 Stunden pro Woche arbeiten. Wer tut sich das an? Drei junge Anwälte erzählen, warum sie weitermachen – oder aufgegeben haben .

Ich wünsche Ihnen einen guten Start in den Tag.

Ihre Özlem Topçu, stellvertretende Ressortleiterin Ausland

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