Das waren noch Zeiten, als sich der Maler Keith Haring für Annie Leibovitz splitterfasernackt komplett wie mit Mehl bestäubte und anschließend mit schwarzen Strichen bemalte, bis er aussah wie eines seiner Strichmännchen. Als die Rocksängerin Patty Smith in durchsichtiger Bluse mit herausforderndem Blick vor den züngelnden Flammen brennender Mülleimer gehörig Hitze ausstrahlte. Oder sich Whoopie Goldberg in einer Badewanne voller Milch ausstreckte und das Gesicht zur Grimasse verzog.
Mehr Anti-Glamour war nicht möglich. Und doch ebnete sich Annie Leibovitz mit derlei Inszenierungen der Superstars den Weg in die Liga der Superfotografen. Mag es anfangs noch zu kleinem Gerangel gekommen sein, um die Prominenz zu solchen Auftritten zu überreden, brachten die Modelle später gleich ihre eigenen verrückten Vorstellungen mit zum Termin. Annie Leibovitz gab den Stars einen Spielplatz, sich auszutoben. „Je blöder die Idee“, gestand sie damals, „desto besser wirkt sie nachher.“ Am Ende freilich führte die Umkehrung der Schmeichelei zu einer Art Superglamour.
Mittlerweile ist das ein halbes Menschenleben her. Aber der Taschen Verlag, der Annie Leibovitz vor neun Jahren in seiner Reihe Sumo einen jener Bände gewidmet hatte, die mehrere Tausend Euro kosten, die man nur zu zweit tragen kann, so groß und so schwer sind sie, und für die eigens ein Tisch mitgeliefert wird, damit man sie wie eine Installation behandeln und betrachten kann, jeden Tag mit einer anderen aufgeschlagenen Seite, fast so, wie es in manchen Häusern mit der Familienbibel getan wird, für diesen Sumo Band also wählte der Taschen Verlag genau diese Aufnahmen für den Umschlag aus. Nun ist das Buch im kleineren Format erschienen, quasi als Volksausgabe. Ansonsten in gleicher Aufmachung. Und noch immer könnte man damit problemlos jemanden erschlagen. Sich durchzublättern dauert Tage, denn im Inneren entfaltet sich ein Lebenswerk. Die Bilder des Umschlags, diese verführerisch plakativen, witzigen Hingucker, stehen dafür schon lange nicht mehr stellvertretend.
Vielleicht wurde sie Anfang der Zweitausenderjahre überhaupt erst zur Künstlerin
Wie ernst es vielmehr in dem Buch auch zugeht, stellen gleich die ersten beiden Aufnahmen klar. Optische Fanfarenstöße als Ankündigung nicht der Porträtierten, sondern der Fotografin. Auf dem einen Bild, schwarz-weiß, rollen drei Soldaten im Zugwind des abhebenden Hubschraubers des amerikanischen Präsidenten den roten Teppich auf. Auf dem anderen posiert Königin Elisabeth im goldenen Seidenkleid vor dem goldenen Vorhang ihres Palasts. Annie Leibovitz waren die Schönen und Reichen und Berühmten nie genug. Es mussten die Mächtigen dazukommen.
Begonnen hat die Karriere von Annie Leibovitz Anfang der Siebzigerjahre als Bildreporterin beim „Rolling Stone“, mit Aufnahmen, mit denen sie sich in den Fußstapfen von Henri Cartier-Bresson begriff, feinsinnigen Beobachtungen bei Veranstaltungen und Konzerten vor allem, in denen der Moment durch die perfekte Komposition zum Ausdruck eines Gefühls oder einer Bewegung wurde. Später erst folgten Porträts, bald im Stil des Pop und vor allem mit krachenden Farben, als Tugend in der Not, weil der Druck des „Rolling Stone“ seinerzeit auf Zeitungspapier keine Nuancen zuließ. Als sie 1983 zu „Vanity Fair“ wechselte, wurde Hochglanz auch im metaphorischen Sinn für lange Zeit zu ihrem Programm.
Aber das Schicksal meinte es nicht nur gut mit ihr. Und spätestens als Susan Sonntag starb, ihre Lebensgefährtin für fünfzehn Jahre, und als sich hinter dem vermeintlich sorgenfreien Leben inmitten des Jetset ein Schuldenberg von vierundzwanzig Millionen Dollar auftat, der nicht unerheblich für Gerede sorgte, zeichnete sich eine Abkehr von jener Ungestümheit ab, mit der sie für ihre grellen Effekte ebenso finanzielle Budgets wie ästhetische Grenzen gesprengt hatte. Gründe, dem Spaß fortan zu misstrauen und über das Wohin und Woher des Lebens nachzudenken, hatte sie plötzlich genug, und vielleicht wurde sie damals, Anfang der Zweitausenderjahre, überhaupt erst zur Künstlerin. Von einem bestimmten Alter an, hat Marianne Faithfull auf einem ihrer düsteren Alben gesungen, arbeite jeder Künstler mit Verletzungen.
Für ein Buch über Annie Leibovitz, zumal dieses, das daherkommt wie das letztgültige, wäre es kein schlechter Ansatz gewesen, diesem Thema nachzugehen. Stattdessen eröffnet ein Vorwort von Steve Martin den Band, in dem er über sich und seine Rolle in der Welt der Unterhaltung witzelt und für Annie Leibovitz nur die Vokabel „Amazing“ findet. Im Nachwort wird Graydon Carter, Chefredakteur von „Vanity Fair“, konkreter und nennt sie einen modernen Frans Hals – und wird es nicht nur gesagt haben, weil sie sich 1967 am San Francisco Art Institute zunächst für Malerei eingeschrieben hatte.
Was folgt, ist ein fotografisches Who’s who vor allem der amerikanischen Kunst. Nicht chronologisch sortiert, auch nicht alphabetisch – und nur hin und wieder nach Gattungen. Mehr als vierhundertfünfzig Personen insgesamt, meist einzeln porträtiert, aber auf gewaltigen Gruppenbildern mit lauter berühmten Gesichtern in Filmstudios oder bei Museumsempfängen auch bis zu vierundsiebzig Menschen beieinander. Recht eigentlich sind es lauter Einzelbilder, passend zum Konzept des aufgeschlagenen Buchs auf einem eigenen Tisch. Und doch findet hier etwas zusammen, das sich allmählich zu einer Erzählung aus der Welt der amerikanischen High Society addiert, nicht kritisch-melancholisch, wie in den Romanen Scott Fitzgeralds, und nicht kritisch-zynisch wie bei Tom Wolfe. Vielmehr ist der Ton bestimmt von einer zur Schau gestellten Freude an der Selbstironie, deren aufwendige, oft anekdotische Inszenierung zum Ausdruck einer eigentümlichen Form von Eitelkeit wird.
Annie Leibovitz’ Porträts zeugen von Professionalität vor wie hinter der Kamera. Und doch kommt man nicht umhin zu glauben, mehr als einer habe die Situation als Adelsbrief begriffen. Als suchte Annie Leibovitz nicht die Berühmten auf, sondern als mache erst sie sie berühmt. Denn es waren ja nicht nur die Schauspieler, die auf dem Karrierehöhepunkt von Annie Leibovitz bereitwillig in dramatisch wirkenden Szenen posierten. Etwa Dennis Hopper und Christopher Walken wie zwei Berufskiller in einer Hotel Suite. Daniel Craig bei Regen vor dem grauen East River unter einem grauen Himmel in einem silbergrauen Aston Martin. Oder Will Smith im Sattel eines sich aufbäumenden schwarzen Hengsts. Der Läufer Carl Lewis zog für sie hochhackige, rote Lackpumps an. Mick Jagger mimte mit Vollbart, langem Haar und nacktem Oberkörper den Heiland am Kreuz. Und Melania Trump streckte für eine Modestrecke in metallen schimmernder Unterwäsche auf der Treppe eines Düsenflugzeugs ihren von der Schwangerschaft dicken Bauch heraus, während Donald Trump mit grimmigem Gesicht am Steuer eines Sportwagens saß. Natürlich entstand manches Material für Modemagazine, anderes sieht aus wie Werbung. Und es hat ja Annie Leibovitz über lange Zeit die Kampagne für ein Kreditkarteninstitut so fotografiert, dass sich die Bilder nahtlos in ihr Werk einfügten.
Alles also bloß Rollenspiele? In gewisser Weise ja, deutet Annie Leibovitz sogar an. Und stellt in einer Serie von Doppelporträts vier Farbaufnahmen so glamourös geschminkter wie entkleideter Showgirls aus Las Vegas vier Konterfeis dieser Damen gegenüber, ungeschminkt und in Schwarz-Weiß. Geradeso, als wollte sie sagen: Es ist nicht die Fotografie, die lügt – es sind die Menschen.
Annie Leibovitz: „Annie’s Big Book“. Fotografien aus 40 Jahren, die eine Ära prägten. Taschen Verlag, Köln 2022. 556 S., Abb., geb. im Schuber, 125 Euro.
Source: faz.net