Streit um Unterbringung: Kippt die Stimmung gegen Flüchtlinge

Ohne die sozialen Medien wäre es anders gekommen. Wahrscheinlich wären die Extremisten nicht in Lörrach aufmarschiert, wahrscheinlich hätte es die Drohbriefe und Beleidigungen nicht gegeben. Wahrscheinlich hätte sich niemand an der Situation gestört. Und das südbadische Städtchen wäre nicht Ursprung eines gesellschaftlichen Flächenbrandes geworden.

Alles begann mit einem unklug formulierten Brief einer Wohnungsbaugesellschaft an vierzig Sozialmieter. Ihre Mietverträge in einem baufälligen Mietshaus wurden gekündigt, damit dort bis zum geplanten Abriss des Hauses rund 100 Flüchtlinge aus der Ukraine untergebracht werden können. Den Mietern wurden modernere und bezahlbare Wohnungen angeboten. Sie erwartete also eine Verbesserung und nicht der Rauswurf in die Obdachlosigkeit.

Doch binnen Stunden führte die Nachricht in vielen Köpfen zu einem Kurzschluss. Eine Empörungswelle baute sich auf. Viele erzählten die Geschichte deutlich verkürzt: dass ukrainische Kriegsflüchtlinge deutschen Mietern die Wohnung wegnehmen. Bei der Lörracher Wohnungsbaugesellschaft meldeten sich 1500 wütende Anrufer, auf dem Mailserver gingen 250 beleidigende und drohende Mails ein. Es dauerte nur wenige Tage, bis vor dem Büro des grünen Kreisverbandes junge Männer in Kapuzenpullovern aufmarschierten. Sie nannten sich „Wackre Schwaben“, rollten ein Transparent mit der Aufschrift „#Wir haben Platz – aber nicht für Deutsche“ aus und zündeten Rauchbomben. Die „Wackren Schwaben“ werden der rechtsextremen „Identitären Bewegung“ zugerechnet, und die beobachtet der Verfassungsschutz.

Die Grünen hatten die Entscheidung, in dem maroden Mietshaus für eine Übergangszeit Flüchtlinge unterzubringen, im Umwelt- und Hauptausschuss vollumfänglich mitgetragen. Aber sie waren damit nicht allein. Der Beschluss war einmütig, auch ein AfD-Gemeinderat stimmte zu. Der parteilose Oberbürgermeister Jörg Lutz und der Chef der Wohnungsbaugesellschaft waren von der Entscheidung, die Mieter umziehen zu lassen, ebenfalls überzeugt.

Von 2700 Wohnung sind nur 80 an Flüchtlinge vermietet

Nach dem starren Verteilschlüssel muss Lörrach in diesem Jahr 356 Flüchtlinge aufnehmen. Im Rathaus waren sie der Meinung, dass die Unterbringung ohne den Umzug der Sozialmieter in neue Wohnungen nicht zu leisten ist. Viele ukrainische Kriegsflüchtlinge wollen nicht lange in der Stadt bleiben. Das Preis- und Mietniveau in Lörrach ist hoch, es ähnelt dem der Schweiz. Die Leerstandsquote beträgt nur ein Prozent. Flüchtlingsunterbringung ist im Übrigen nicht das Hauptgeschäft der Lörracher Wohnbaugesellschaft: Das kommunale Unternehmen bewirtschaftet und verwaltet in der bei Grenzpendlern beliebten Stadt vor den Toren Basels 2700 Wohnungen, davon sind 80 an Flüchtlinge vermietet.

Der Oberbürgermeister von Lörrach, Jörg Lutz, bei einer Pressekonferenz am 22. Februar : Bild: dpa

Viele Städte und Gemeinden schaffen es kaum noch, die vielen Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber unterzubringen. Schon im Sommer hatten die kommunalen Spitzenverbände und einige Landespolitiker vor dieser Situation gewarnt. Aus Sicht der Kommunen ist seitdem zu wenig passiert. Die Erwartungen an den Bund sind hoch. Für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge sind aber Länder und Kommunen zuständig. Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD hat zu zwei Flüchtlingsgipfeln eingeladen, doch die Ergebnisse sind bescheiden. Der Bund stellt Immobilien für die Unterbringung zur Verfügung: Mittlerweile sind es rund 350 Gebäude mit insgesamt 70.000 Plätzen, ein Teil der Gebäude muss noch renoviert werden. Verabredet ist außerdem, dass der Bund in diesem Jahr 2,75 Milliarden Euro für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge zur Verfügung stellt. Aus Sicht der kommunalen Spitzenverbände ist das nicht genug. Und Geld allein löst das Problem nicht. Das zeigt der Lörracher Fall.

Die ganze Aufregung begann am Rosenmontag. Zunächst äußerten sich nur die AfD und der Lörracher SPD-Landtagsabgeordnete Jonas Hoffmann. Die AfD machte für den fahrlässig formulierten Brief der Wohnungsbaugesellschaft die Migrationspolitik der Ampel verantwortlich und erstattete Anzeige wegen Nötigung. Der Sozialdemokrat Hoffmann versuchte, die Gemüter mit einem Video auf Facebook zu beruhigen. Er ist kein sonderlich bekannter Landtagsabgeordneter, aber der Meinung, dass man in einem solchen Fall nicht schweigen sollte. Seine Videos werden normalerweise von 500 Leuten geschaut. Mit dem Video zu den Lörracher Sozialmietern übertraf er seine normale Reichweite um ein Vielfaches. „Ich habe kurz nach der Veröffentlichung dieser Briefe an die Mieter bei Facebook ein Video geteilt und versucht, die Situation zu erklären. Das Ergebnis waren 12.000 Views, 2000 Kommentare, 95 Prozent unfreundlich bis hasserfüllt“, erzählt er.

Bei Facebook ließ er die Nutzungsdaten auswerten. Das Ergebnis: Die meisten Nutzer saßen gar nicht in Baden-Württemberg, sondern in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Niedersachsen. Meist waren es ältere Menschen, vor allem Männer. Der Brief der Wohnungsbaugesellschaft an die Mieter wirkte also nicht in Lörrach oder in Baden-Württemberg als sozialer Sprengstoff, sondern in ganz anderen Teilen Deutschlands. „Wenn sich die Kommentatoren ‚Sturmfront 44‘ nennen, dann ist ja klar, dass es sich nicht um spontane Bürgerwut handelt, sondern um organisierte Hetze“, sagt Hoffmann.

„Migration ist nach wie vor das Aufregerthema schlechthin“

Josephine Ballon kennt das. Sie leitet das juristische Team von HateAid. Die gemeinnützige Organisation berät Opfer von Hass und Hetze im Netz, das erklärte Ziel ist die Stärkung von Demokratie im digitalen Raum. „Es wundert mich nicht, dass der Lörracher Fall viral gegangen ist“, sagt Ballon. „Migration ist nach wie vor das Aufregerthema schlechthin. Die Solidarität mit den ukrainischen Geflüchteten ist noch hoch, aber der Druck steigt, vor allem wenn Verteilungskämpfe und Sozialneid hinzukommen.“ Doch es ist gar nicht so leicht, dagegen vorzugehen: „Desinformation wie im Fall von Lörrach ist auch gefährlich, aber rechtlich kann man oft nicht viel tun. Einen Sachverhalt falsch wiederzugeben ist nicht verboten.“

Das Flüchtlingsheim im Lörracher Ortsteil Haagen : Bild: Picture Alliance

HateAid beobachtet, dass Extremisten von links und rechts solche Konflikte anheizen. „Das geht im Internet besonders einfach: Hier verschwimmen die Grenzen, daher gelingt es den Extremisten, Anschluss an die Gesellschaft zu finden.“ Der Verfassungsschutz warnt schon seit Jahren vor einer immer größeren Enthemmung bei vielen Menschen. In Teilen des bürgerlichen Lagers sinken die Berührungsängste, selbst wenn Positionen offenkundig rassistisch oder antisemitisch sind.

Man kann darüber streiten, ob die Lörracher sehenden Auges in diese Katastrophe steuerten. Dagegen spricht, dass es einen ähnlichen Fall – Mieterumsetzung zur Schaffung einer Flüchtlingsunterkunft – vor einigen Jahren schon mal gab, aber sich kaum jemand aufregte. Es gibt eine einfache Erklärung dafür: Niemand postete den Mieterbrief bei Telegram oder in den sozialen Netzwerken.

Die Stadt Lörrach steht nun vor der Aufgabe, den gesellschaftlichen Frieden wiederherzustellen. Am Donnerstag gab der Gemeinderat eine Erklärung zu den Vorfällen ab. „Wir beziehen Position gegen Hass, Hetze und Intoleranz“, heißt es darin. Als Anlass werden der Shitstorm gegen Mitarbeiter der Wohnbau Lörrach genannt und die fremdenfeindlichen Aktionen gegen die Grünen. „Wir stehen für eine liberale Stadt Lörrach und eine offene Gesellschaft. Wir dulden nicht, dass Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt werden.“ Die beiden Gemeinderatsmitglieder von AfD und Freien Wählern trugen die Erklärung nicht mit.

Steffen Jäger, Präsident des baden-württembergischen Gemeindetags, hält es für möglich, dass sich derartige emotionale Aufwallungen bald in anderen Städten wiederholen. Ein Vorfall in Berlin-Wedding gibt ihm recht: Hier sollen Senioren aus einer Pflegewohneinrichtung ausziehen, damit dort Flüchtlinge aus der Ukraine unterkommen können. Die Zeiten, in denen die Flüchtlingsaufnahme „geräuschlos“ funktioniert habe, seien vorbei, sagt Jäger. „Seit einigen Monaten müssen wir feststellen, dass die verfügbaren Kapazitätsgrenzen bei den regulären Aufnahmeeinrichtungen und zwischenzeitlich eben auch auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt erschöpft sind“, sagt er. Die Situation sei „angespannt“. Der baden-württembergische Städtetagspräsident Peter Kurz nennt noch ein weiteres Problem: „In der Integrationsarbeit gibt es einen erheblichen Personalnotstand und zusätzlich eine hohe Fluktuation.“ Die Unterbringung in Hallen führe zu weiterem Personalbedarf bei Dienstleistern, der zunehmend schwer zu decken sei, sagt der Mannheimer Oberbürgermeister von der SPD.

Faeser befürchtet Hetze und Gewalt

Bundesinnenministerin Nancy Faeser wünscht sich „Fingerspitzengefühl“ bei den „schwierigen Entscheidungen“, die Kommunalpolitiker an Ort und Stelle treffen müssen. „Klar ist aber auch, dass für schon lange bestehende Probleme auf dem Wohnungsmarkt nicht jetzt Kriegsflüchtlinge als Begründung missbraucht werden dürfen. Das ist falsch und unverantwortlich. Denn das vergiftet die Diskussion und führt zu Hetze gegen Geflüchtete oder gegen politische Entscheidungsträger – im schlimmsten Fall bis hin zur Gewalt.“

Viele haben die Sorge, dass die Stimmung kippt. Aus der vorherigen Flüchtlingskrise wissen die Kommunalpolitiker, wie schnell es vorbei ist mit der Solidarität, wenn die Kinder keinen Sportunterricht mehr haben, weil die Turnhallen belegt sind. Oder wenn das Faschingsfest ausfällt, weil die Mehrzweckhalle des Ortes eine provisorische Unterkunft geworden ist. Bürger fühlten sich verdrängt. Und sie wollten sich irgendwie dagegen wehren. Solche Gefühle können in Gewalt umschlagen. Viel zu oft ist das schon passiert. Im vergangenen Jahr hat es 121 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte gegeben, wie das Bundesinnenministerium berichtet. Das ist eine Zunahme von 73 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die meisten Taten seien rechtsextrem motiviert gewesen.

Auch viele Kommunalpolitiker müssen Angst vor Gewalt haben. Eine Studie im Auftrag des brandenburgischen Innenministeriums hat ergeben, dass in dem Bundesland durchschnittlich jeder dritte kommunale Amts- und Mandatsträger mindestens einmal Beleidigungen, Bedrohungen, Sachbeschädigungen oder körperliche Gewalt erlebt hat. „Hass gegen Männer und Frauen in der Kommunalpolitik ist ein großes Problem, es wird immer schlimmer“, sagt auch Josephine Ballon von HateAid.

Source: faz.net

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